Jubiläum 1700 jüdisches Leben soll Daseinsberechtigung betonen Esther Dischereit warnt vor Erinnerungskultur mit zweierlei Maß

Saarbrücken/Berlin · Was tun gegen Antisemitismus? Schriftstellerin Esther Dischereit und Historiker Burkhard Jellonnek fordern vielseitige Formen des Gedenkens.

 Auch in der Synagoge in Saarbrücken soll das bundesweite Jubiläum 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland in diesem Jahr mit vielfältigen Aktionen begangen werden.

Auch in der Synagoge in Saarbrücken soll das bundesweite Jubiläum 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland in diesem Jahr mit vielfältigen Aktionen begangen werden.

Foto: Robby Lorenz

Der Anschlag auf die Synagoge von Halle und Provokationen wie Judensterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“: So schlimm die Anlässe waren, immerhin haben sie die Wahrnehmung von jüdischen Stimmen verändert. Das hat zumindest Anastassia Pletoukhina, die am Tag des Anschlags in der Hallenser Synagoge saß, festgestellt. „Auf einmal wird Juden und Jüdinnen sehr stark zugehört, ich wurde oft von Medien gefragt und das wurde dann auch veröffentlicht“, sagt Pletoukhina, die auch Direktorin der Aktivitäten der Jewish Agency for Israel ist.

Eines der eklatanten Probleme sei, dass die Aufarbeitung nur in Teilen funktioniert habe, weshalb der Schulunterricht in seiner Kreativität gefordert sei. Diese Meinung vertrat Burkhard Jellonnek, Vorsitzender des saarländischen Kulturforums der Sozialdemokratie. „Die Schüler wissen zu wenig über deutsche Demokratie, ich stelle hier und da fest, dass unser Unterricht auch fantasielos ist.“

Deutliche Kritik an einigen Formen der Erinnerungskultur kam von der Lyrikerin Esther Dischereit. „Es ist nicht richtig, die Erinnerung für die vermeintlich wertvollen jüdischen Menschen vorzubehalten“, sagte sie und verwies auf jüdische Kulturschaffende, deren Beitrag für die deutsche Kultur immer besonders stark herausgestellt werde. „Der jüdische Schneider und der eingewanderte Fließbandarbeiter dürfen genauso so wenig getötet werden.“ Sie kritisiert auch die Exotisierung jüdischer Menschen, und hofft, dass diese nicht beim bundesweiten Jubiläum 1700 jüdisches Leben fortgesetzt werde. „Die Berechtigung des Seins ist Ansatz der 1700 Jahre, einige haben einen großen Beitrag geleistet, andere nicht.“ Wenn das Jubiläum dazu taugt, dass die Daseinsberechtigung dieser Anderen gesehen wird, dann werde es einen Gewinn gebracht haben, so Dischereit weiter.

Dass Erinnerungsarbeit ein immerwährender Prozess ist, ist klar. Aber die für Erinnerungsarbeit zuständige Bundestagsabgeordnete Marianne Schieder (SPD) plädierte dafür, diese Aufgabe nicht immer nur den Schulen zuzuweisen. „Wir müssen mehr tun in der außerschulischen Bildung, Ausbildung und Erwachsenenbildung“.

Pletoukhina, Jellonek, Dischereit und Schieder hatten am Mittwochabend an einer virtuellen, überregionalen Podiumsdiskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung teilgenommen.

Wichtig war dabei auch: Welche Form des Gedenkens brauchen wir, um falsche Aneignungen, Vorurteile und letztlich Gewalt zu vermeiden? Während es für Jellonnek Wertschätzung und Respekt sind, nennt Pletoukhina Empathie, Kritikfähigkeit und pocht darauf, Geschichte und damit die darin verwobenen Menschen mit ihren Biografien nicht als Vergangenheit zu sehen, sondern als Kontinuität. Eine Vielzahl verschiedener Gedenkformen ist für Schieder der richtige Ansatz, sie verwies zum Beispiel auf viele, moderne Popkulturprojekte, die die Gedenkstätten inzwischen veranstalten. Dischereit meint, dass auch repräsentative Formen des Gedenkens wichtig sind, und dass namhafte Unternehmen sich öffentlich zu ihren Verstrickungen in der NS-Zeit bekennen.

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