„Lob des Vergessens – Teil 2“ von Oliver Zahn Spuren eines kollektiven Vergessens im digitalen Raum

Saarbrücken · Mit „Lob des Vergessens 2“ präsentierte Autor Oliver Zahn zum Abschluss des Festivals Perspectives ein digitales Performance-Essay über Flucht und Diskriminierung.

 „Lob des Vergessens – Teil 2“: Über die Plattgform Zoom blendete Oliver Zahn seine Gedanken ein.

„Lob des Vergessens – Teil 2“: Über die Plattgform Zoom blendete Oliver Zahn seine Gedanken ein.

Foto: Oliver Zahn

Was war da eigentlich gewesen?, fragt man sich nach Oliver Zahns fast einstündigem live auf der Zoom-Plattform ausgeführten „Performance-Essay“ und noch einmal so langem „Zuschauer-fragen-der-Autor-antwortet“-Chat, den das in Corona-Zeiten wunderbar findige Festival Perspectives am Freitag (und Samstag) bot. Sollte sie da etwa schon eingetreten sein, die „Überschreibung“, eine jener Techniken des (kollektiven) Vergessenmachens, die Autor Zahn in seinem „Lob des Vergessens – Teil zwei“ systematisiert? Denn jene sich live mit Text füllenden Fenster des Zuschauer-Chats auf dem Monitor gleichen nun mal jenen, in denen uns Autor Zahn zuvor sein Essay präsentierte, aufs Pixel. Und: Hätte er uns sein Essay auf Papier ausgedruckt vorgelegt, wären wir damit nicht ziemlich schnell durch gewesen? So aber blieb man ganze 50 Minuten lang bei der Stange, wollte den Blick vom Computerbildschirm kaum abwenden. Wie kann das sein? Worum es ging?

Schnell im Kopf gekramt, in die – altmodisch handschriftlichen – Notizen geguckt. Ein deutschsprachiges Lied von 1946, in dem ein Sänger mit osteuropäischen Akzent den „Verlust der Heimat“ und die Diskriminierung als Flüchtling beklagt und das Zahn per Zufall in einem ethnologischen Volkslied-Tonarchiv fand, war Auslöser für seinen „Versuch“. Sich wundernd, warum er, selbst Enkel von deutschen Heimatvertriebenen, dieses in dem Vertriebene-Milieu einst sehr beliebte Lied nicht kennt, brachte ihn darauf, zu ergründen, wie kollektives Vergessen funktioniert, welche Techniken es dafür gibt. Vier verschiedene Techniken listet er auf, welche weniger einer Systematik folgen als von seinen Rechercheschritten abgeleitet sind. Die führt er auf dem Bildschirm vor.

Die Sinne der Zuschauer setzt der Künstler dabei schwer auf Entzug. Zahn benutzt die Plattform Zoom, aber ohne Video und (weitgehend) ohne Ton. Wir sehen ihn nicht, wir hören ihn nicht – nur seinen Bildschirm mit aufploppenden Fenstern, die sich mit Zahns Gedankengängen füllen. Wenn Buchstaben zu Sätzen werden und gleich wieder verschwinden, muss man dranbleiben. So packt und hält er unsere Aufmerksamkeit. Wie geschickt Zahn mit den Fenstern hantiert, sie verdoppelt, verschiebt, arrangiert, wie effizient er Sprache nutzt, dass er nur halbe Sätze löschen und durch neue ersetzen muss, das hat den Reiz von Choreografie und Tanz. Und wann hat man schon erlebt, dass jemand Programmiersprache poetisch, als Metapher, als Analogie verwendet?

Warum Zahn aber nun das Vergessen lobt? Er sieht es als Chance, sich frei zu machen von der Last der Vergangenheit, dem Kleben an der Vertriebenen-Identität, der Selbststilisierung als Opfer, dem Revanchismus, um nur die Themen zu nennen, die Zahn schon seit längerem umtreiben. So ganz falsch liegt der Autor mit dieser Einschätzung ja nicht, versuchte er nur nicht, Erinnern-Vergessen zum zweipoligen Entweder-Oder-Modell zu verkürzen und zu verallgemeinern. Gerade in Deutschland hat man in schmerzlichen Prozessen erkennen müssen, dass Vergessen ohne zu verarbeiten nurmehr Verdrängen bedeutet und auf Dauer nichts bringt. Dennoch: Der 31 Jahre junge Performer Zahn, der zuvor mit Lob des Vergessens , Teil eins, ein Bühnenstück vorgelegt hat, hat sich in der Corona-Not etwas einfallen lassen. Wie vielfältig das Spektrum der neuen Online-Versuche ist, haben uns die Perspectives in diesem Jahr sehr gut vorgeführt.

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