Theaterspiel auf höchstem Niveau Denn der Mensch ist dem Menschen ein Wolf

Saarbrücken · Die Protagonisten in „Erde“ machen sich ihr Dasein selbst und gegenseitig zur Hölle. Das Stück wird zurzeit in der Kettenfabrik in St. Arnual aufgeführt. Regie führt der bühnenerfahrene Martin Leutgeb.

 Dieter Meier (vorne) spielt den alten Grutz, dessen baldiges Ableben von seinen Mitmenschen sehnlichst erwartet wird. Doch diesen Gefallen tut er ihnen nicht .

Dieter Meier (vorne) spielt den alten Grutz, dessen baldiges Ableben von seinen Mitmenschen sehnlichst erwartet wird. Doch diesen Gefallen tut er ihnen nicht .

Foto: Kerstin Krämer

Das könnte der feschen Mena (Nadine Fleckinger) so passen. Warten, bis der alte Grutz abkratzt, um sich dann den Junior Hannes (Frank Müller) unter den Nagel zu reißen. Wobei es nicht der Hannes ist, den Mena will – die bauernschlaue Wirtschafterin schert sich nicht um Gefühle: Den Hof als Mitgift will sie. Aber der dominante Altbauer (Dieter Meier) verreckt ums Verrecken nicht. Hartleibig und zäh wie eh und je denkt er gar nicht dran, an seiner Verletzung zu krepieren – schon gar nicht, wenn er auf dem Gottesacker neben dem Sauwirt zu liegen kommt.

Dabei hat ihm die Blessur über Winter so zu schaffen gemacht, dass er schon den Schreiner kommen ließ, um seinen eigenen Sarg in Auftrag zu geben. Wochenlang steht das maßgeschneiderte Erdmöbel neben ihm in der Kammer und ist ihm ein grauslicher Schlafgeselle. Aber als der Frühling naht, sprießen dem virilen Alten wieder saftige Triebe. „Die Erde trägt mich noch!“, triumphiert er und spottet mit seiner Wiederauferstehung allen Aasgeiern Hohn. Vergeblich hat der weiche Hannes gehofft, endlich gegen den übermächtigen Vater aufbegehren und als Erbe dessen Nachfolge antreten zu können. Um nicht mehr Knecht, sondern Herr zu sein. Auf eigenem Grund und Boden. Auf diesem geliebten, verfluchten, gottverdammten Stückchen Erde, von dem weder er noch sein Vater lassen wollen noch können.

„Erde“ heißt denn auch das Stück des österreichischen Dramatikers Karl Schönherr (1867 – 1943), das am Karsamstag in der Kettenfabrik St. Arnual Premiere hatte: als zweite Produktion des „Volkstheaters“ nach dem gefeierten Debüt „Frau Suitner“ (vom gleichen Autor) vor fünf Jahren und erneut unter der Regie des ehemaligen Staatstheater-Schauspielers Martin Leutgeb. Mundart, Amateurtheater – sollten Sie Vorbehalte haben: Vergessen Sie‘s. Was man hier zu sehen kriegt, ist fesselnd-authentisches Laien-Schauspiel auf fabelhaftem Niveau. Das liegt zum einen an Schönherrs naturalistischen Stoffen, die es wahrlich in sich haben. Determinismus, Angst, Besitzstandsstreben, Generationenkonflikte, Rivalitäten – es tut bitter weh, Menschen dabei zuzugucken, wie sie wider besseres Wissen in ihrer ideellen Fixierung jegliches private Glück opfern und ins Unglück rennen. Verpasste Chancen, nicht gelebtes Leben, Sich-Bescheiden und Sich-Fügen – dass der einzige Charakter, der hier Sinn für die Freuden des Daseins hat, ausgerechnet das geistig zurückgebliebene „Kneschdsche“ (Marcel Schmitz) ist und tragisch umkommt, ist da nur konsequent. Und als Hannes erkennt, dass es doch noch etwas anderes gibt als „Arbeit, Essen, früh mit den Hühnern ins Bett und früh wieder raus“, ist es zu spät.

Vor Jahren liebte er die Magd Trine (Heike Sutor), war aber zu feige, mit ihr den Hof zu verlassen, um sich was Eigenes aufzubauen. Nun ist sie zu alt, um seinen Kinderwunsch zu erfüllen. Als Ersatz käme Mena gerade recht, aber die zieht lieber als Gattin des verwitweten Köhlers (Matthias Dietzen) in dessen Drecksloch, als das Weib eines Besitzlosen zu werden.

Neben den erbarmungslosen Volten des Schicksals entfaltet die Sprache eine fürchterliche Wucht. Hier fallen grauenhaft verrohte Sätze, die aber ihrer lakonischen Treffsicherheit so derb komisch sind, dass man gar nicht anders kann, als hilflos zu lachen: Akribisch haben die Volkstheatraliker das Stück selbst ins Saarländische übertragen und dabei verschiedene regionale Idiome berücksichtigt und urige Ausdrücke exhumiert. Schließlich Leutgebs Regie: Es ist schlicht eine Wonne, so brillant geführte Schauspieler zu sehen. Nicht eine einzige Sekunde verliert hier einer die Bühnenspannung, auch nicht die Kinder-Darsteller. Jeder einzelne besticht als originäre Type mit ausdrucksstarkem stummem Spiel, das mehr verrät als tausend Worte – ein wahrer Genuss, die vielsagenden Blicke derer zu beobachten, die demjenigen, der gerade den Fokus hat, zuspielen.

Die Bühnensituation in der mit ihrem rustikalen Gepräge historisch wie atmosphärisch perfekten Kettenfabrik begünstigt das: Das Geschehen spielt sich auf und an den Kopfenden eines Steges ab, der quer durch den Raum läuft (Bühne: Frank Philipp Schlössmann, Ausstattung in Kooperation mit dem Saarländischen Staatstheater). Die Zuschauer sitzen beidseitig längs und können jederzeit wählen, welchem Ausschnitt des Geschehens sie folgen. Etwa dem hämischen Zickenterror zwischen Mena und Trine – hier hackt sehr wohl eine Krähe der anderen ein Auge aus. Oder dem kirchlichen Ablasshandel in Gestalt der gruselig burlesken Pragmatiker Melitta Bach, Daniela Kunzen und Martin Sieren (Akordeon), bei denen man sich vom Sterben freikaufen kann. Etwas abrupt gerät lediglich der Schluss, bei dem alle tanzend das Leben feiern. Doch auch der ist in seiner fatalistischen Durchhalteparole stimmig: So sind sie halt, die Leut. Sie können nicht anders.

Mehr Infos und Termine: ­
www.volkstheater-­kettenfabrik.de, Restkarten unter Tel. (01 70) 2 02 92 38.

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