Erzählungen von Dzevad Karahasan Das Leben ist eben von flüssiger Substanz

Saarbrücken · Bosniens wohl bedeutendster Schriftsteller, Dzevad Karahasan, legt einen exzellenten Erzählungsband vor: „Ein Haus für die Müden“.

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Foto: Suhrkamp

Als Dzevad Karahasan (66), der wohl bedeutendste Schriftsteller Bosniens, im Herbst 2015 zuletzt in Saarbrücken las, erzählte er einem am Morgen nach seiner Lesung im Café von dem Rat, den ihm seine Mutter einst als Kind gegeben habe. Nur was nicht zu sehen sei, gehöre sauber gemacht, das Sichtbare könne ungefegt bleiben. Hinter die Kulissen zu schauen, ist wichtiger als auf die Bühne, könnte man den mütterlichen Rat umformulieren.

Hinter die Kulissen des Lebens blickt Karahasan auch in seinem jüngsten Buch, einem Band mit fünf Erzählungen unter dem Titel „Ein Haus für die Müden“. Karahasan weiß – das ist der alle Texte darin durchziehende rote Faden – , dass die „fluide Substanz des Lebens“ sich nicht leicht einfangen, geschweige denn abmessen und einsortieren lässt. Es ist zu viel Zügellosigkeit, Unberechenbarkeit und Phantasie im Lebensspiel, als dass der Blick auf die Fassaden etwas Nennenswertes mit der Wirklichkeit zu tun haben würde. Schon die erste Erzählung „Der Bund der geheimen Briefträger“ erweist sich als raffiniertes Spiel mit Zeit- und Erzählebenen: Ausgehend von der Titelseite einer bosnischen Tageszeitung vom August 1914 stolpert der Erzähler über das Erwähnen eines gefallenen Soldaten und kommt dann unter größtmöglichen Umwegen nach und nach zum Kern der Geschichte: dem geradezu kriminalistischen Fall einer Handvoll Briefe, die erst mit mehrjähriger Verspätung zugestellt wurden. Die Auflösung des Rätsels erweist sich, wie so vieles in Karasahans Büchern, als ein abenteuerlich-poetisches Kabinettstück, dessen Logik nichts, aber auch gar nichts gemein hat mit der nüchternen Faktenhuberei derer, die nichts ahnen von den Segnungen der Narren.

In „Aufzählung von Wundern“, einer der schönsten Geschichten des Bandes, erzählt Karahasan im Zeichen der „Zersplitterung der Welt“ vom Verlust der wohlgeordneten Sinnhaftigkeit ganz alltäglichen Lebens. Der Tod seiner Frau hat im Leben Karlo Brzohods ein großes Drunter und Drüber ausgelöst. Ganz so, als sei alles seither „zertrümmert in eine Unzahl selbstständiger und isolierter, selbstgenügsamer und in sich geschlossener Anblicke“. Weil die Gegenwart keinen Halt mehr zu bieten scheint, sitzen Karlo und seine Gefährten seit 20 Jahren jeden Montag am selben Tisch und erzählen sich diesselben Geschichten. Karahasan verklärt all diese bosnischen Nostalgiker nicht, die mit der hochtourigen Welt nicht mehr Schritt halten wollen. Aber er zeigt erzählerisch fraglos ein großes Herz für sie.

Was viel damit zu tun haben dürfte, dass für Karahasans bosnische Landsleute, die über die Jahrhunderte immer wieder aufs Neue annektiert oder sonstwie vereinnahmt und fremdbestimmt worden sind, die Phantasie zum festen Rettungsanker geworden ist. Eine Ahnung davon gibt die immer wieder ins Surreale abdrehende, reichlich vertrackte Erzählung „Das Abheben der Gleise“, in der die Dinge „nach sichtbaren und verborgenen Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen miteinander in Einklang“ kommen.

Man liest sie mit Gewinn, selbst wenn man den diversen erzählerischen Haken, die der um jede Folgerichtigkeit unbekümmerte Karahasan darin schlägt, nicht immer folgen kann. Es genügt einem, wie hier untergründig alles mit allem verbunden scheint und die hier in der tiefsten Provinz als Verheißung der Modernität verlegten Gleise sich dann als Vorboten erweisen – einer unwirklichen, aus den Fugen geratenenen Welt. Wie Karasahan, einem Puppenspieler gleich, die Figuren und Kulissen kommen und gehen lässt, das ist dann doch ein großer poetischer Schmaus.

Dzevad Karahasan: Ein Haus für die Müden. Fünf Geschichten. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Suhrkamp, 239 S., 24 Euro.

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