Bernd Stegemanns neues Buch „Der Furor der Cancel Culture kann jeden treffen“

Saarbrücken · Bernd Stegemann, Dramaturg am Berliner Ensemble und seit 2005 Professor an der hauptstädtischen Ernst-Busch-Schauspielschule, gehörte vor drei Jahren zu den Sprechern der gescheiterten linken Sammlungsbewegung um Sahra Wagenknecht und hat sich wiederholt mit klugen Zeitdiagnosen zu Themen wie „Political Correctness“ und „Cancel Culture“ zu Wort gemeldet.

 dpatopbilder - 04.09.2018, Berlin: Sahra Wagenknecht (2vr), Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, Ludger Volmer (r, Bündnis 90/Die Grünen), Simone Lange (l, SPD), Oberbürgermeisterin der Stadt Flensburg, und Bernd Stegemann (2vl), Autor und Dramaturg, gehen in den Saal der Bundespressekonferenz und stellen dort offiziell die Bewegung «Aufstehen» vor. Anders als bei politischen Parteien muss man als Unterstützer von «Aufstehen» keinen Mitgliedsbeitrag zahlen und kann sich einfach im Internet anmelden. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

dpatopbilder - 04.09.2018, Berlin: Sahra Wagenknecht (2vr), Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, Ludger Volmer (r, Bündnis 90/Die Grünen), Simone Lange (l, SPD), Oberbürgermeisterin der Stadt Flensburg, und Bernd Stegemann (2vl), Autor und Dramaturg, gehen in den Saal der Bundespressekonferenz und stellen dort offiziell die Bewegung «Aufstehen» vor. Anders als bei politischen Parteien muss man als Unterstützer von «Aufstehen» keinen Mitgliedsbeitrag zahlen und kann sich einfach im Internet anmelden. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Kein Wunder, dass beide Phänomene in seinem Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ wieder eine Rolle spielen.

Das Buch kam in Rezensionen nicht besonders gut weg. Die Kritik warf Stegemann vor, darin zu sehr auf seinem bekannten Steckenpferd herumzureiten, einer fundamentalen Kritik, der nicht zuletzt im linken Lager verbreiteten Identitätspolitik.

Nicht von der Hand zu weisen, ist ein anderer Kritikpunkt an Stegemanns Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“: Er findet keine plausiblen Antworten auf das, was darin von ihm als Grundfrage aufgeworfen wird, wie nämlich die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft aufgehoben und wieder ein konstruktives Miteinander gefunden werden kann. Stegemann versucht in seinem klar argumentierenden Buch das Auseinanderfallen der heutigen Gesellschaft ineinander unversöhnlich gegenüberstehende Communities sowie deren jeweilige Wirkmechanismen zu erklären.

Die Relativität von Meinungen und Wahrheiten macht Stegemann als eines der Grundprobleme heutiger Gesellschaften aus: Jedes soziales Subsystem konstruiert sich seine eigene Weltsicht und ersetzt dabei Wissen durch Meinungen, die dann gepflegt und zugespitzt und zementiert werden. In Zeiten omnipräsenter sozialer Medien, wo jeder zum Sender und Produzenten werden kann, hat dies für Stegemann eine weitere fatale Folge: „Das Kennzeichen spätmoderner Öffentlichkeit besteht darin, dass sowohl die Anzahl der Themen als auch die Variation ihrer Darstellung ins Unermessliche gewachsen ist.“

Stegemann befasst sich auch mit der Frage, wie sich in der zersplitterten Gesellschaft heute Kommunikation vollzieht. Gemeint damit ist ein soziales Phänomen, das individuelle Empörung kultiviert und auf die Tabuisierung und Ächtung missliebiger Meinungen setzt. Identität wird durch Aus- und Abgrenzung erzeugt, ohne dass überhaupt noch ein Interesse an sozialem Ausgleich besteht. Stegemann beschreibt dies wie folgt: „Die Öffentlichkeit heizt damit eine Dynamik an, die ihre eigene Funktion zerstört. Die eine Folge besteht darin, dass die Gesellschaft in immer kleinere und untereinander verfeindete Gruppen zerfällt. Und die andere Folge besteht darin, dass in der Öffentlichkeit vor allem die Stimmen gehört werden, die die hohen Töne der Empörung anschlagen.“ Die Saat hierfür wurde Stegemann zufolge von der Postmoderne und deren verhängnisvollem allseitigen Relativismus gelegt, der statt gemeinsamer Wahrheiten nur noch partikulare Interessen erkennt.

Der Neoliberalismus der 90er Jahre drängte die Sozial- und Systemkritik dann zugunsten individueller Selbstoptimierung zurück. Der Einzelne hat demnach sein Schicksal wesentlich selbst in der Hand. Probleme des Einzelnen werden nicht länger in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit betrachtet, sondern an Selbstverantwortung appelliert. Die Folgen für die soziale Kommunikation sind beträchtlich: „Die konkreten Widersprüche werden unsichtbar und an ihre Stelle tritt die aufgeregte Selbstdarstellung. Rationalität und Argumente werden abgewertet.“ An ihre Stelle treten dann mit viel Tamtam lauter Gefühlswallungen, lauter Empörungs- und Wut-Kaskaden. Die nötige Selbstlegitimation geschieht vermittels sozialer Selektion und Gruppenzugehörigkeit, die Stegemann als „böse Reinheit“ brandmarkt: „Der Furor der Cancel Culture kann jeden treffen.“

Stegemann macht in Protestbewegungen, sei es „Me too“, „Black lives matter“ oder „Fridays for future“, ein Prinzip kommunikativer Zuspitzung aus, das dialektische, sachorientierte Debatten erschwere. Daneben knöpft er sich dann auch noch die Machtmechanismen heutiger Populisten vor – doch ein zündendes Konzept, was sich gegen den von ihm beschriebenen Verfall der sozialen Kommunikation tun ließe, bleibt Stegemann schuldig. Dass mehr Demut, wie er mahnt, die Lösung ist, lässt sich jedenfalls mit Fug und Recht bezweifeln.

Bernd Stegemann: „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“, Klett Cotta, 304 Seiten, 22 Euro.

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