Zum Tode von Dirigent Mariss Jansons Dirigieren weit über 100 Prozent hinaus

München/Saarbrücken · Seine Konzerte waren Ereignisse – auch das in Saarbrücken 2013. Jetzt ist der Ausnahme-Dirigent Mariss Jansons im Alter von 76 Jahren gestorben.

In Saarbrücken reichte ihm lediglich eine einstündige Probe, um sich akustisch mit dem E-Werk vertraut zu machen. Dann war für Mariss Jansons alles klar. 2013 war das – und das Konzert des BR-Symphonieorchesters mit seinem Chef und Mahlers zweiter Sinfonie, der „Auferstehung“, in der alten Industriehalle, war ein, nein, es war der Höhepunkt der Musikfestspiele Saar in jenem Jahr. „Die Aufführung im voll besetzen Saal wurde zum Fest und konnte das Mahler-Bild vertiefen“, befand unser unvergessener Kritiker Hans Bünte damals. Warum? Weil die BR-Symphoniker spätestens mit Jansons zur Weltklasse gereift waren, und der eben kein Maestro, kein selbstherrlicher Pult-Titan war, sondern ein Mann, dem Dirigieren pure Leidenschaft bedeute – an der er das Publikum stets teilhaben ließ. Ja, Jansons-Konzerte rauschten oft wie Aufputschmittel durchs Blut, man verließ in Glückseligkeit den Saal. Aber nicht, weil er einen mit Musik überwältigen wollte, sondern, weil ihm jedes Detail bedeutsam war; Details aus dem das Große und Ganze erst erwachsen konnte.

Jetzt ist der lettische Dirigent in seiner Wahlheimatstadt St. Petersburg gestorben. Mit „nur“ 76 Jahren, möchte man fast sagen. Weil diese wenigen nur zu Teil werdende Ausnahmeberufung, 70, 80 manchmal über 100 Menschen zu einem Klangkörper zu vereinen, offenbar oft alt werden lässt. Greise, aber immer noch aktive Kapellmeister sind keine Seltenheit. Mariss Jansons wirkte jedoch schon seit einiger Zeit gezeichnet, die Züge eingefallen. 2018 und 2019 sagte er etliche Konzerte ab. Er, der sich lange sein jungenhaftes Äußeres bewahrt hatte, wirkte plötzlich gealtert. Vielleicht auch, weil er sich immer und bis zuletzt zu viel aufbürdete. Als er 2004 neben den Münchnern, die er in der Nachfolge von Lorin Maazel seit 2003 führte, auch noch Chef des Amsterdamer Concertgebouworkest wurde, versprach er „100 Prozent für München und 100 Prozent für Amsterdam“. Selbst Pultgötter aber müssen dem menschlichem Maß gehorchen. Dabei hatte der Dirigent bereits 1996 bei einer Aufführung von Puccinis „La Bohème“ in Oslo einen Herzinfarkt erlitten. Sein Dirigieren bremste das nicht, es blieb voller Leidenschaft, voller Empathie – ob bei Beethoven, Bruckner, oder auch bei dem von ihm so geschätzten Russen.

Im Nachhinein könnte man leichthin sagen, ein Leben mit der Musik war für Mariss Jansons vorgezeichnet. Schon sein Vater Arvid Jansons war ein renommierter Dirigent, seine Mutter Iraida Sängerin. Ebenso gut hätte für den jungen Mariss da Leben aber enden können, bevor es richtig begann. Im Ghetto von Riga wird er 1943 geboren. Seine jüdische Mutter muss ihn in einem Versteck zur Welt bringen. Ihr Vater und ihr Bruder sterben im Ghetto.

Später lebt die Familie in Leningrad, früher und heute wieder St. Petersburg. Jansons studiert dort Klavier, Geige und Dirigieren. In Wien kommt er zum legendären Dirigentenausbilder Hans Swarowsky, gewinnt den Karajan-Wettbewerb. Doch nach Berlin zu Karajan darf Jansons nicht; die politisch eisigen Zeiten sind nicht danach. Doch seine Karriere kann das nicht ernsthaft aufhalten. 1979 wird er Chefdirigent der Osloer Philharmoniker. Voller Elan und oft auch mit unnachgiebiger Strenge macht er die Norweger zum international gefragten Orchester formte. Und ein Workaholic bleibt Jansons sein Leben lang. Öfter verspricht er seiner Ehefrau Irina, einer Ärztin, kürzer zu treten. Doch es bleibt beim Versprechen. Zu vieles will er dirigieren – im Konzert vom Barock bis zum eher milden Zeitgenössischen, aber auch in der Oper, von der er sagt, sie liege ihm eigentlich am meisten. Doch seit seinem Herzinfarkt (schon sein Vater war 1984 am Pult an Herzversagen gestorben) macht er sich im Musiktheater rar, wird mehr und mehr zum Mann des Konzertsaals.

 Dirigent Mariss Jansons im Jahr 2013 bei der Arbeit mit seinen BR-Symphonikern.

Dirigent Mariss Jansons im Jahr 2013 bei der Arbeit mit seinen BR-Symphonikern.

Foto: picture alliance / Sueddeutsche/dpa Picture-Alliance / Simon, Johannes

Voriges Jahr erst wurde sein Vertrag bei den Münchnern bis 2024 verlängert. Nun dürfte es schwer werden, einen Dirigenten zu finden der sich so, geradezu symbiotisch, mit seinem Orchester verbindet. In München soll für die BR-Symphoniker demnächst ein neuer Konzertsaal entstehen. Jansons hat unermüdlich dafür gekämpft. Gut denkbar, dass das neue Haus mal seinen Namen tragen wird.

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