Einer der größten Kriminalfälle des Saarlandes Pascal ist seit 22 Jahren verschwunden – warum der Fall bis heute bewegt

Saarbrücken · Vor genau 22 Jahren verschwand Pascal Zimmer aus Burbach spurlos. Das Schicksal des Fünfjährigen ist ungeklärt. Bis heute treibt viele der Fall des damals Fünfjährigen um. Eine Chronologie des Falles, vom Verschwinden bis hin zum Mammutprozess und der heutigen Situation der Angehörigen.

Seit 22 Jahren verschwunden: Bilder aus dem Vermisstenfall Pascal
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Seit 21 Jahren verschwunden: Bilder aus dem Vermisstenfall Pascal

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Foto: dpa/dpaweb/-

Ein rostbraunes Mietshaus in der Hochstraße, Saarbrücken, Stadtteil Burbach: Das ist die letzte Adresse von Pascal Zimmer, den die Öffentlichkeit nur unter seinem Vornamen kennt. Pascal, damals fünf Jahre alt, verschwand am 30. September 2001 für immer. Spurlos. Früh hielt die Kriminalpolizei dieses Datum für den Todestag des Kindes. Doch seine Leiche haben die Ermittler nie entdeckt.

22 Jahre sind seit dem 30. September 2001 vergangen. Mehr als zwei Jahrzehnte, in denen die drängendste Frage unbeantwortet geblieben ist: Was geschah mit dem schmächtigen Jungen, geboren am 11. Dezember 1995, blond, 1,20 Meter groß, 15 bis 18 Kilo schwer?

So lebte Pascal mit seiner Familie in Saarbrücken-Burbach

Pascal Zimmer wäre heute 27 Jahre alt, erwachsen, wie würde er sich an seine Kindheit in der Hochstraße erinnern? An diese vielbefahrene Hauptstraße, an der sich verrußte Häuser entlangziehen, in einem Viertel zwischen Bahngleisen und altem Hüttengelände.

Mit seinen Eltern wohnte Pascal im Erdgeschoss des vierstöckigen Hauses. In seinem Zimmer hingen die kugeligen Teletubbies an der Wand, von ihm gemalt. An der Tür klebte ein Blatt Papier, kariert, eigenhändig unterschrieben: „Frauen haben keinen Eintritt, Verbot! Pascal.“

Sigrid Hübner ist die Tante des verschwundenen Jungen, die jüngere Schwester seiner 2005 verstorbenen Mutter. Sie fährt oft an dem rostbraunen Haus in Burbach vorbei. „Es ist immer noch ein seltsames Gefühl“, sagt sie. „Ich kann das dann nicht wegschieben.“

Pascal wird 2001 am Kirmessonntag zum letzten Mal gesehen, am späten Nachmittag begegnet ihm ein Zeuge in der Hochstraße. Der Junge sitzt auf seinem blau-gelben Kinderrad, das ebenfalls nie wieder auftaucht.

Am Morgen war der Fünfjährige mit einem Freund zum Kindergottesdienst spaziert. Später spielten die Jungs in Pascals Zimmer auf der Nintendo-Konsole. Nach dem Mittagessen klingelte Pascal bei Nachbarn, nirgendwo blieb er lange.

Eine Stunde vor seinem Verschwinden kehrt Pascal nach Hause zurück, er möchte mit seinen Eltern zur Kirmes. Sonja Zimmer vertröstet ihren Sohn, am Donnerstag sei Familientag, sagt sie ihm. Gegen 18 Uhr entdeckt die Mutter seinen Fahrradhelm im Hof. Am Abend ruft Zimmer bei Sonja Hübner an, ihrer Schwester: „Du, Pascal ist immer noch nicht nach Hause gekommen.“

Nach Pascals Verschwinden startet die Polizei eine beispiellose Suchaktion

In Burbach beginnt eine beispiellose Suchaktion. Das Landeskriminalamt richtet eine Sonderkommission ein. Hundertschaften der Polizei durchkämmen mit Spürhunden den früheren Arbeiterstadtteil, unterstützt von Freiwilligen, in der nahen Saar tasten Taucher nach der Leiche des Jungen. Ein Hubschrauber kreist mit Wärmebildkamera über den Saarbrücker Westen. Ohne Ergebnis.

Wenn der 30. September wieder bevorsteht, klingelt bei Pascals Tante das Handy. Sie hebt ab. Auch wenn sie weiß, dass ihr die Reporter die immer gleichen Fragen stellen werden. Während sie bis heute nach Antworten sucht.

Manchmal erreichen sie neue Hinweise. Wie 2021, als ein Journalist der engen Verwandten berichtete, es gebe da einen jungen Mann in Portugal. Hübner hörte sich auch diese Geschichte an, sie wollte Einzelheiten wissen. Das könne dann doch nicht Pascal sein, sagte sie dem Anrufer.

Hübner geht davon aus, dass ihr Neffe tot ist. Doch sie sagt auch: „Eine 100-prozentige Gewissheit gibt es nicht.“ Was an Gewissheit fehlt, bleibt ihr als Hoffnung. „Irgendwie stellt man sich immer noch vor, dass jemand an der Tür klingelt und er dann einfach dasteht“, sagt Hübner. „Aber das ist eher Wunschdenken.“ Wahrscheinlicher ist, dass Pascal Zimmer einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Aus der Suche nach dem Kind entwickelt sich einer der größten Kriminalfälle der Bundesrepublik.

Mammutprozess zieht sich über drei Jahre hin

Der Fall Pascal ist bis heute ungelöst, trotz eines Mordprozesses vor dem Saarbrücker Landgericht, der drei Jahre dauern und deutsche Justizgeschichte schreiben wird. 626 Hinweisen gehen die Ermittler nach, bis es 2004 zur großen Anklage im Fall Pascal kommt.

Zwei Wochen nach dem Verschwinden Pascals präsentiert die Kripo die angebliche Mörderin: Eine Stiefschwester soll den Fünfjährigen im Streit mit einer Eisenstange erschlagen haben, gegen die damals 18-Jährige wird Haftbefehl erlassen. Der Verdacht zerstreut sich. Der „Stern“ berichtet später, die junge Frau sei mehr als 30 Stunden lang verhört worden, ohne Unterbrechung. Daraufhin ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Aussageerpressung. Das Verfahren wird eingestellt. Doch die Verhörmethoden der unter einem enormen Druck stehenden Beamten werden nicht zum letzten Mal hinterfragt.

Am 19. November 2002 durchsucht die Kriminalpolizei in einem Missbrauchsfall die Tosa-Klause, eine Bierkneipe in der Burbacher Hochstraße, unweit der Wohnung des verschollenen Pascal. In dem Lokal soll ein Junge namens B. wiederholt vergewaltigt worden sein. Noch am selben Tag werden vier Personen festgenommen, darunter die Kneipenwirtin Christa W. Ihr werfen die Ankläger später vor, den Missbrauch an B. organisiert, jeweils 20 Mark für Sex mit dem Kind kassiert zu haben.

Im Februar 2003 verdichten sich Hinweise, ein zweiter Junge könne in der Tosa-Klause zum Opfer geworden sein: Pascal Zimmer. Nicht nur das: Jetzt geht es auch um ein mögliches Tötungsdelikt. In einer Kiesgrube nahe Schöneck in Frankreich wird nach Pascals sterblichen Überresten gesucht. Fündig wird die Polizei nicht.

Am 20. September 2004 beginnt vor dem Saarbrücker Landgericht der Pascal-Prozess. Dreizehn Männer und Frauen sollen an der Ermordung des Fünfjährigen und zuvor an dessen Missbrauch in der Tosa-Klause beteiligt gewesen sein. Pascal Zimmer soll zu Tode misshandelt, seine Leiche in einen blauen Müllsack verpackt und mit einem Renault 4 zur Kiesgrube gebracht worden sein. So steht es in der Anklageschrift.

Das Mammutverfahren ist ein reiner Indizienprozess, objektive Beweise fehlen, Blut, Sperma, DNA. Die Vorwürfe stützen sich auf teils widersprüchliche, widerrufene Geständnisse. Es stehe noch nicht einmal zweifelsfrei fest, dass Pascal an seinem mutmaßlichen Todestag in der Tosa-Klause war, sagt der Vorsitzende Richter, Ulrich Chudoba.

Prozess vor Landgericht in Saarbrücken endet mit Freispruch

Dann, am 7. September 2007, nach 148 Verhandlungstagen, spricht das Gericht alle Beschuldigten frei, nach dem Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. „Der Verdacht bleibt, aber auf bloßen Verdacht hin darf niemand verurteilt werden“, sagt Richter Chudoba. Walter Teusch, der Anwalt von Christa W., beklagt einen „Freispruch dritter Klasse“.

Ein hartes Urteil fällt die erste Große Strafkammer über das Vorgehen der Mordermittler: „Die Angaben der hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsstruktur zumindest auffälligen Angeklagten sind oftmals erst durch massive Vorhalte, Suggestionen und Beeinflussungen anderer Art zustande gekommen.“ Trotzdem spricht für die Kammer „vieles dafür“, dass das in der Anklage gezeichnete Bild „zumindest im Kernbereich den Tatsachen entsprechen“ könnte. So formulieren es die Richter im schriftlichen Urteil, das 288 Seiten umfasst.

„Der Prozess an sich war für mich sehr schwierig, weil man den Tätern ins Auge geschaut hat“, sagt Pascals Tante, Sigrid Hübner. Sie zweifelt nicht an der Schuld der Angeklagten, trotz der Freisprüche, die der Bundesgerichtshof bestätigte. Hübner sagt: „Die sind ja nicht freigesprochen worden, weil das Gericht davon überzeugt war, dass sie unschuldig sind, sondern aus Mangel an Beweisen – das ist ein Riesenunterschied.“

Die Tosa-Klause ist längst abgerissen, das rostbraune Mietshaus in der Hochstraße steht dagegen noch. Doch für Hübner ist diese Adresse keine Anlaufstelle mehr, trotz der Erinnerungen, die sie damit verbindet. 2011 wollte die bundesweite „Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ in Burbach ein Denkmal für Pascal errichten. Die damalige Oberbürgermeisterin Charlotte Britz (SPD) sprach sich dagegen aus. Sie argumentierte mit den Freisprüchen, ein Missbrauch an Pascal sei durch das Gericht nicht belegt worden.

 „Vermisst seit 30.9.2001“: Sigrid Hübner, die Tante des verschwundenen Pascal, am 2017 in Schwalbach aufgestellten Gedenkstein für ihren Neffen.

„Vermisst seit 30.9.2001“: Sigrid Hübner, die Tante des verschwundenen Pascal, am 2017 in Schwalbach aufgestellten Gedenkstein für ihren Neffen.

Foto: dpa/Monika Heibel

Gedenkstein erinnert an den Jungen Pascal

Sigrid Hübner fährt mittlerweile nach Schwalbach, mit frischen Blumen. Seit 2017 gibt es auf dem Friedhof der Kirchengemeinde Heilig Kreuz einen Gedenkstein für ihren Neffen. „Ich denke immer an Pascal“, sagt Hübner. Aber sein Schicksal bestimmt ihren Alltag nicht mehr. „Ich habe auch ein eigenes Leben.“ In Stein gemeißelt steht in Schwalbach, was im Fall des kleinen Pascal aus Burbach unveränderlich erscheint: „Vermisst seit 30.9.2001.“

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