111 Kilometer am Stück Vom Bewegungsmuffel zum Ultra-Läufer

Blieskastel · Bis er 51 war, trieb Hans-Werner Mathis keinen Sport. Jetzt will der Blieskasteler erstmals 111 Kilometer am Stück laufen. Wie kam es dazu?

 Abends, wenn die Sonne sich etwas zurückgezogen hat, ist das Joggen für den Blieskasteler Hans-Werner-Mathis besonders angenehm. Am Samstag will der Marathonläufer seinen Rekord von 78 Kilometern übertreffen.

Abends, wenn die Sonne sich etwas zurückgezogen hat, ist das Joggen für den Blieskasteler Hans-Werner-Mathis besonders angenehm. Am Samstag will der Marathonläufer seinen Rekord von 78 Kilometern übertreffen.

Foto: Diana Lewing

Er ist gewiss kein Mitläufer, dieser Mann, der das, was er macht, fast so selbstverständlich findet wie Gassi gehen mit seinen Hunden. An diesem frühen Mittwochmorgen warten seine drei Vierbeiner zu Hause, während Hans-Werner Mathis sechs Kilometer weiter sein weißes Fahrzeug an einem Waldstück in Blieskastel parkt. Es ist Viertel vor acht. Der vermutlich heißeste Tag im Jahr hat noch nicht seine volle Wucht entfaltet.

Denn wenn es zu heiß ist, lässt Mathis Sträucher und Bäume lieber etwas langsamer an sich vorbeiziehen. Langsamer als sonst, wenn er hier im Wald ist. Derzeit etwa zweimal pro Woche. 14 Kilometer, je nach Tagesform auch mal länger. Eigentlich viel zu wenig. Eigentlich müsste Mathis gerade jetzt richtig Gas geben. Er müsste seine kräftigen Waden auf und ab bewegen und seine Stoppuhr dabei im Auge behalten. Denn dem 55-Jährigen bleibt nur noch eine Woche. Nur noch sieben Tage bis zur Nacht von Freitag auf Samstag, 6. Juli, 00.10 Uhr, Startzeit für den Saar Ultra-Lauf von Saargemünd bis Konz. Streckenlänge: 111 Kilometer.

Es ist das erste Mal, dass Mathis sich an diese Distanz heranwagt. Sein bisheriger Rekord: 78 Kilometer. Die stemmte er vergangenes Jahr im luxemburgischen Müllerthal. 13 Stunden Dauerlauf mit kurzen Pausen. Momente, in denen Körper und Kopf miteinander ringen – und der Kopf das Spiel jeden Augenblick zu beenden droht. Vor allem auf den vielen Asphaltkilometern, auf denen Einsamkeit und Natur die einzigen Begleiter sind.

Kommende Woche muss dieser Kopf ihn knapp 17 Stunden lang tragen, die Saar entlang, hoffentlich wird es nicht so heiß wie heute. „Wir hoffen auf 25 Grad.“ Es möge erhört werden! 111 Kilometer sind ja schon eine Nummer für sich, für die Grenzerfahrung braucht niemand einen zusätzlichen Hitzeschock. Mathis nimmt das, worüber viele Menschen den Kopf schütteln würden, gelassen. Ihm ist durchaus bewusst, dass sein Runner-Dasein den perfekten Nährboden für alle möglichen Sprüche, Vorurteile und Mutmaßungen bietet. Einen Spruch will Mathis nicht vorenthalten, er geht so (eigentlich auf Englisch, aber im Deutschen klingt er auch gut): „Jeder Idiot kann einen Marathon laufen, aber man muss schon ein besonderer Idiot sein, um einen Ultramarathon zu laufen.“ Mathis wäre nach dieser Logik ein besonderer Idiot. Aber das ist natürlich nur ein „running gag“, ein Spruch unter Läufern, eine Phrasenanekdote, die er einmal entlang einer Strecke bei Kusel auf einem Plakat erhascht hat. „Idiotisch“ wäre nämlich ein ziemlich idiotisches Label für das, was der 55-Jährige vor vier Jahren für sich entdeckt hat. Nachdem er sich zwei Jahre lang dagegen gesträubt hatte. Zunächst hatte nämlich seine Frau versucht, ihn für das Laufen zu begeistern. Vergeblich. „Danach wollte ich anderthalb Jahre lang nichts vom Joggen wissen.“ Es war einfach nicht so seins, der Spirit hat gefehlt. Bis zum stolzen Alter von 51 trieb Mathis so gut wie gar keinen Sport. Er sei so unsportlich gewesen, dass er „noch nicht mal Fußball geguckt“ habe.

Irgendwann, als sich die Frustration über die ersten Gehversuche gelegt hatte, entschied er sich, doch noch mal die Herausforderung anzunehmen. Damals, 2015, als er noch „keine 500 bis 600 Meter“ schaffte, ohne das Gefühl zu haben, den Mount Everest hochgesprintet zu sein.

Doch dabei sollte es nicht bleiben. Jemand wie Mathis arbeitet sich Schritt für Schritt vor. Gemütlich, aber sicher. Während er von seinem Lauf-Aufstieg berichtet, klingen seine Worte so, als würde er sie diktieren. Seine Sätze: verästelt wie das Wäldchen, in dem er sich auf und abbewegt. Er reiht großzügig Nebensätze aneinander, als seien sie seine nächsten Kilometer. Sein Hang zur Verkabelung ist verständlich, wenn man bedenkt, dass der Blieskasteler im „echten Leben“ Elektrotechniker ist. Neben dem Wort „Anlagenplanung“ klingt „Ultramarathon“ geradezu wie ein Befreiungsschlag. „Ein guter Ausgleich.“

Jetzt ist er in der Tat kurz davor, ein „Ultra“ zu werden. Ja, so heißen sie, die Läufer, die die magische 42, 195 Kilometer-Streckengrenze (die Zahl hat ernsthaft genau diese Stellen hinterm Komma) überschritten haben. „Klingt ein bisschen extrem, ein bisschen nach Hooligan, finden Sie nicht, Herr Mathis?“ Na ja, buddhahaftes Achselzucken. Ist eben in der Szene so geläufig, der Fokus liegt nicht auf Namen, sondern auf Landschaften. Deshalb sei er Trail-Läufer geworden. Würde am liebsten noch durch Sandsteinschluchten in den USA oder in die Nationalparks von Portugal. Er will laufend beobachten, wie sich seine Umgebung verändert, will eins sein mit dem Hier und Jetzt.

2015 fing er klein an mit 21 Kilometern im Pfälzer Wald, schwitzte sich in den folgenden Jahren an längere Strecken heran. Durch Frankreich, Luxemburg, Österreich und die Schweiz. Er probierte auch das mit den Straßenmarathons aus, bei denen sich, wie er beschreibt, die Umgebung an die Läufer anpasse und nicht umgekehrt. Hängen geblieben sind vor allem der viele Plastikmüll, das Getrimmtsein auf Leistung und Fragen wie: „Welche Pace bist du gelaufen?“ Nein, nichts für ihn. Er ist kein Trophäenjäger, kein Strecken-Junkie, der noch vor dem ersten richtigen Atemzug das Triumphbild postet und darunter seine Zeit, bisher die beste, Hashtag „instarunning“. Weit gefehlt.

Mathis will am Freitag einfach aus der Saarbahn steigen – das Aufgehen der Saarbahntüren ist der Startschuss – und sich dann von Kopf und Fuß den Saar-Radweg entlangtragen lassen. Auch wenn es abgedroschen klingt: Der Weg ist für ihn das Ziel.

„Packen Sie die 111, Herr Mathis?“ „Ich bin zuversichtlich.“ Auch sei die Gefahr, sich zu verlaufen, gering. Nur am Ende müsse man aufpassen, um es ans andere Saar-Ufer zu schaffen. Oder wie es der Elektrotechniker formulieren würde: „Verlaufen ist integraler Bestandteil.“ Aus Versehen auf einer Party gelandet sei er so leider noch nie. Aber dafür mal im falschen Dorf. Gut, dass ein Traktorfahrer ihm den Weg wies.

Um Risiken zu minimieren, ist es am Freitag Pflicht, ein Handy in den Runner-Rucksack zu packen. Alle zehn bis 30 Kilometer gibt es Verpflegungsstellen. Mit Wasser, Keksen, Bananen, Schokolade und Bier. Ja, auch mit Bier – nicht immer alkoholfrei. Mathis schließt nicht aus, auf dem Weg das ein oder andere zu tanken, versichert aber noch im selben verschachtelten Satz, dass er sicher nicht vorhabe, in die Fußstapfen des Läufers Joe Kelbel zu treten. Der verfasste 2016 das Buch mit dem vielsagenden Titel: „100 km für ein Bier“.

Bei Hans-Werner Mathis werden es am Samstag, 6. Juli, im Idealfall „111 km für eine Flachzange“ sein. Denn jeder Teilnehmer, der das Ziel in Konz bis 17 Uhr erreicht, erhält ein solches Werkzeug als Medaille, natürlich vergoldet. Geldpreise gibt es nicht. Aber darauf komme es auch nicht an. Der Weg ist das Ziel. Oder wie Mathis es in einem überraschend unverschwurbelten Satz ausdrückt: „Das Einfache ist immer das Beste.“

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