Pflegefall Pflege

Saarbrücken. "Über mein Heim, Herr, breite die Hände . . ." steht in einem Bilderrahmen über ihrem Bett. Die 87-Jährige lebt seit zweieinhalb Jahren in einer Saarbrücker Senioreneinrichtung. Sie sitzt in einem Rollstuhl, kann nicht mehr allein aufstehen oder gehen. "Wenn ich mal muss, klingele ich nach einer Pflegerin", sagt sie

 Eine Altenpflegerin in Saarbrücken hilft einer 87-Jährigen aus dem Rollstuhl in ihr Bett. Foto: Dietze

Eine Altenpflegerin in Saarbrücken hilft einer 87-Jährigen aus dem Rollstuhl in ihr Bett. Foto: Dietze

Saarbrücken. "Über mein Heim, Herr, breite die Hände . . ." steht in einem Bilderrahmen über ihrem Bett. Die 87-Jährige lebt seit zweieinhalb Jahren in einer Saarbrücker Senioreneinrichtung. Sie sitzt in einem Rollstuhl, kann nicht mehr allein aufstehen oder gehen. "Wenn ich mal muss, klingele ich nach einer Pflegerin", sagt sie. Manchmal dauere es eine halbe Stunde, bis jemand kommt, um ihr zu helfen. "Ich weiß, dass die Pflegerinnen nichts dafür können. Es gibt einfach zu wenig Personal", stellt die 87-Jährige nüchtern fest. Wenn man ihr dann helfe, müsse "immer alles flott gehen", der nächste Pflegebedürftige warte schon.

Für das "Wasserlassen" haben die Pflegekassen in Deutschland einen "Richtzeitwert" von zwei bis maximal drei Minuten veranschlagt. "In der Realität sieht das natürlich oft ganz anders aus. Solche Bedürfnisse halten sich nicht an Zeitvorgaben, schon gar nicht bei älteren und gebrechlichen Menschen", sagt eine Altenpflegerin, die anonym bleiben möchte. Die 48-Jährige, die rund 250 Überstunden angesammelt hat, nennt die physische und psychische Belastung in ihrem Job "enorm". Häufig würden sich Pfleger deshalb krank melden, was den Personalmangel zusätzlich verschärfe. Statistisch gesehen sind Alten- und Krankenpfleger nur etwa acht Jahre in ihrem Beruf tätig. Im Saarland verdienen sie im Schnitt 2000 Euro brutto im Monat.

"Die Überforderung ist ganz klar da", sagt die 48-Jährige. Dass Pflegebedürftige aus Zeitgründen mitten in der Nacht gewaschen werden, nachmittags um halb vier Abendessen bekommen oder Windeln nur deshalb tragen müssen, damit sich das Personal die Hilfestellung beim Gang zur Toilette sparen kann - "das halte ich in manchen Heimen für durchaus realistisch", sagt sie. Ihre Chefin, die Leiterin der Saarbrücker Senioreneinrichtung, sagt: "Wir versuchen unser Möglichstes. Aber um eine menschliche Pflege mit ausreichend fachlichem Know-how und unter Berücksichtigung aller Expertenstandards und Richtlinien zu leisten, dazu sind weder wir noch andere Einrichtungen im Saarland in der Lage." Es fehle an Geld, Fachkräften, überhaupt an Personal.

Harald Kilian, Chef der Saarländischen Pflegegesellschaft, hat ausgerechnet, wie viel Zeit ein Heimpfleger hierzulande durchschnittlich für einen Pflegebedürftigen hat: 55 Minuten pro Tag. Allein für die Hilfe beim Essen bräuchten Pfleger allerdings schon 60 Minuten. "Derzeit werden mehrere Heimbewohner parallel versorgt und Demenzkranke gleichzeitig angehalten, Nahrung selbst zu sich zu nehmen", sagt Kilian. Für ein halbe Stunde zusätzliche Zeit pro Kopf müssten im Saarland derzeit 480 Vollzeitkräfte zusätzlich eingestellt werden - für rund 17 Millionen Euro. Doch selbst wenn es beim Status Quo von 55 Minuten Pflegezeit pro Kopf bliebe, bald wird es noch enger: Aufgrund der demographischen Entwicklung rechnet Kilian schon in zehn Jahren mit einem zusätzlichen Bedarf von 3440 Beschäftigen und 2064 Fachkräften im Pflegebereich. Doch der Mangel an Fachkräften ist eklatant - und der Wegfall der Zivildienstleistenden noch nicht eingerechnet. Derzeit arbeiten im Saarland rund 10 200 Menschen in Pflegeberufen.

Ein gesetzlicher Rahmenvertrag schreibt bei einem saarländischen Pflegeheim mit 100 Pflegebedürftigen durchschnittlich 30,54 Pflegekräfte als Mindestpersonal vor. Die Hälfte des Personals muss von Fachkräften gestellt werden. Berücksichtigt man Urlaubsansprüche, Überstundenabbau und Krankheit, fallen rund zwei Drittel des Personals weg. Berücksichtigt man zudem die Schichtdienste, ist im Extremfall eine Fachkraft im Tagesdienst für bis zu 30 Heimbewohner zuständig. Nach einem neuen Rahmenvertrag soll es seit 1. Januar durchschnittlich fünf Prozent mehr Personal geben. Notwendig sind nach Vorstellung der Pflegegesellschaft jedoch 16 Prozent.

"Die Krux ist", sagt Kilian, "dass die Berechnung der Pflegekassen für den Pflegeaufwand nur selten mit der Realität überein stimmt." Wäre das der Fall, müsse man beispielsweise für das Wasserlassen bis zu zehn Minuten ansetzen. Die dann längere Pflegezeit hätte zur Folge, dass etliche Pflegefälle in eine höhere und damit teurere Pflegestufe kämen, die den Heimen wiederum zusätzliches Personal zubilligt. "Aber niemand - außer den Heimen - hat wegen der Kosten Interesse an einer Höherstufung der Pflegebedürftigen", sagt Kilian.

Zunehmend offenbar auch die Betroffenen selbst nicht. "Es werden uns immer mehr Fälle gemeldet, wo die Betroffenen dies ablehnen, weil sie ihren Angehörigen nicht höhere Zuzahlungen zumuten wollen." Bei Pflegestufe 3 müssen in stationärer Pflege durchschnittlich etwa 1500 Euro monatlich zugezahlt werden. Reicht die Rente nicht, müssen Angehörige dafür gerade stehen. Um das Problem zu lösen, schlägt Kilian vor, die Zuzahlungsbeträge für jede Pflegestufe anzugleichen.

Die Furcht vor den hohen Kosten ist es auch, die Arbeiterwohlfahrt-Landeschef Karl Fischer hinter der im Bundesvergleich "überdurchschnittlich geringen Zahl von Pflegestufe-3-Fällen im Saarland" vermutet. Armin Lang, bisher Chef des Landesverbands der Ersatzkassen, dreht den Spieß um: Das Pflegesystem böte vielen Heimen vielmehr "falsche Anreize: je höher die Pflegestufe, desto höher der Preis des Pflegeheimplatzes." Lang sagt: "Man muss leider vermuten, dass beitrags- und steuerfinanzierte Sozialeinrichtungen gesetzeswidrig Investitionsausgaben über Kürzungen von Personalausgaben finanzieren. Egal ob dies private, öffentliche oder freigemeinnützige Sozialeinrichtungen sind." Friedhelm Fiedler, Mitglied in der Geschäftsleitung des prosperierenden privaten Seniorenheim-Betreibers Pro Seniore in Saarbrücken, sagt dazu: "Wir wachsen ja nicht, weil wir abkassieren und Schindluder treiben, sondern weil die Menschen uns vertrauen."

Die 87-Jährige in der Saarbrücker Senioreneinrichtung interessiert das alles wenig. Sie sitzt in einem Rollstuhl, kann nicht mehr allein aufstehen oder gehen. "Wenn ich mal muss, klingele ich nach einer Pflegerin." Über ihrem Bett steht geschrieben: "Über mein Heim, Herr, breite die Hände . . ." "Wir versuchen unser Möglichstes."

Leiterin einer Senioreneinrichtung

in Saarbrücken

Hintergrund

Im Saarland gab es nach der letzten Pflegestatistik aus dem Jahr 2007 insgesamt 29 402 Pflegebedürftige, davon 15 552 in Pflegestufe 1, 10 187 in Pflegestufe 2 und 3288 in Pflegestufe 3. 48,5 Prozent dieser Menschen werden zu Hause betreut, 19,9 Prozent von ambulanten Diensten und 31,7 Prozent in stationären Einrichtungen. Im Jahr 2020 wird mit insgesamt 37 000 Pflegebedürftigen gerechnet. jos

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