Nur im Schmerz ist das Leben zu ertragen

Glückliche leiden unter Schmerzen, die ihr Wohlbefinden mindern - viele Unglückliche verletzen sich, damit der Schmerz ihr Leid verdrängt, gerade in jungen Jahren

Glückliche leiden unter Schmerzen, die ihr Wohlbefinden mindern - viele Unglückliche verletzen sich, damit der Schmerz ihr Leid verdrängt, gerade in jungen Jahren. Vier bis zehn Prozent der 15- bis 16-Jährigen, mehr Mädchen als Jungen, fügen sich regelmäßig Wunden zu, schneiden sich mit Klingen oder Scherben oder brandmarken sich mit Zigaretten, vor allem an Unterarm, Oberschenkel, Bauch, referierte Dr. Eva Möhler jetzt bei einer Schultagung zu diesem meist unerkannten Problem. Zu der hatten die Schoolworker und der Schulpsychologische Dienst des Landkreises Saarlouis angeladen. Über die 160 Teilnehmer hinaus mussten sie viele Anmeldungswünsche ablehnen."Körperlich sind die Kinder gesünder, aber psychologisch auffälliger", sagte Möhler, Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der SHG-Klinik in Kleinblittersdorf. Für manche Heranwachsenden entstehe ein unerträglicher Stress durch fehlenden Halt in der Familie, Verluste durch Tod oder Scheidung, mangelnde Rollenbilder in einer immer komplexeren Welt, Medieneinflüsse, Leistungsdruck, Gewalt und Missbrauch, Drogen.Die Selbstverletzung helfe, die innere Überspannung abzubauen, erklärte die Lebacher Psychotherapeutin Dr. Inna Wollenberg: "Das ist ein schlimmes Gefühl, das muss unterbrochen werden." Ohnmachtsgefühle führten zu dem Verlangen, zumindest in diesem kleinen Bereich die Selbstbestimmung wiederzuerlangen und sich über den Alarmzustand des Körpers wenigstens einen kurzen Kick zu verschaffen: "Ich will es nicht, aber es bringt mir etwas, deshalb mache ich es", sei oft die Logik. Auch helfe es, bei den physischen Wunden genau wissen zu können, woher der Schmerz kommt, anders als bei dem allgemeinen Leidensdruck.Wichtige Faktoren, damit es so weit gar nicht erst kommt, sind laut Dr. Möhler: eine verlässliche, liebevolle Bezugsperson in früher Kindheit; Halt in einer Familie, die Zuneigung gibt und Werte vermittelt; Einbindung in der Schule und in Vereinen; Hobbys; Selbstvertrauen und Konfliktfähigkeit. Denn: "Die körperliche Verunstaltung mit Wunden und Narben ist oft Ausdruck eines mangelnden Selbstwertgefühls. Die Jugendlichen machen sich hässlich, um ihr äußeres Erscheinen dem inneren Wertgefühl anzupassen." Selbstverletzung als Identitätszeichen einer Jugendkultur, wie durch Narben und Tätowierungen, Piercings oder Magersucht, sollen in einer getrennten Veranstaltung aufgegriffen werden.Ein wesentliches Problem der Betroffenen ist, dass es ihnen nicht gelingt, mit Gefühlen angemessen umzugehen: Affekt-Dysregulation sagen die Fachleute dazu. Allerdings seien erhebliche Stimmungsschwankungen bei Heranwachsenden normal und auch bei Selbstverletzungen diagnostiziere man bei Jugendlichen keine dauerhafte Persönlichkeitsstörung, erläuterte Dr. Eva Möhler. Für Eltern trug sie zusammen, was Jugendliche grundsätzlich von Erwachsenen brauchen: 1) Freiraum, eigene Möglichkeiten zu erkennen und erproben, 2) sicheren Halt: Ausgleich statt Verstärkung der Launen, 3) Interesse der Eltern daran, was das Kind durchmacht, 4) unaufdringliches Zur-Verfügung-Stehen für Gespräche und Hilfegesuche, 5) Reibungsfläche für das eigene Verhalten, ohne dass es abgewertet wird. Zu alledem sollten die Eltern nicht den typischen Entwicklungsraum der Jugendlichen besetzen, mit Rebellentum und permanenter Partnersuche.Wie man Jugendlichen begegnen kann, die sich selbst verletzen, zeigte Stefan Eisenbeis auf, der als Leitender Diplompsychologe der SHG-Klinik in Kleinblittersdorf extreme Varianten kennt, bis hin zum Trinken von Batteriesäure. "Eltern reagieren oft mit Hilflosigkeit und Unverständnis. Sowohl intensive Zuwendung als auch Kontrollversuche helfen einem Jugendlichen gar nicht, der sich unverstanden fühlt", sagte er. "Scham- und Schuldgefühle wachsen weiter. Zeigt man ihnen, dass ihr Verhalten nicht okay ist, sinkt ihr Selbstwert noch weiter." Er betonte: "Wichtig ist, das Verhalten nicht gut zu heißen, weder zu verstärken noch zu bestrafen, sondern Akzeptanz zu zeigen." Er schlägt vor, zu sagen: "In Deiner extrem schwierigen Situation kann ich verstehen, dass Du nicht anders handeln kannst, als Dich zu verletzen." Zuerst gelte es, einen Ersatz zu finden, damit der Stressabbau durch einen extremen Reiz funktioniere, der weniger zerstörerisch ist: zum Beispiel in der Not die Unterarme nicht zu "ritzen", sondern in gestoßenes Eis zu tauchen. Später versuche er, die Stresstoleranz des Jugendlichen zu erhöhen, dessen Fixierung auf seine Probleme aufzuheben, um wieder im Hier und Jetzt zu leben. Dann könne man beginnen, mit einer Neuorientierung Lebenspläne zu entwickeln.Info-Telefon Schulpsychologischer Dienst: (06831) 444-450 "Sowohl intensive Zuwendung als auch Kontrollversuche der Eltern helfen den betroffenen Jugendlichen gar nicht."Diplompsychologe Stefan Eisenbeis

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