Heimatmuseum Spiesen Erst Stiere und Ziegen, dann die Historiker

Spiesen · Dank des Heimatvereins Spiesen bleibt die Ortsgeschichte in Lions Haus lebendig – vorerst.

 Hinter der Jesus-Figur an den Wänden sind Zeitdokumente zu sehen, die das Leben der jüdischen Bevölkerung von Spiesen dokumentieren.

Hinter der Jesus-Figur an den Wänden sind Zeitdokumente zu sehen, die das Leben der jüdischen Bevölkerung von Spiesen dokumentieren.

Foto: Jörg Jacobi

„Die nächsten Jahre kommen wir noch hin“, sagt Wolfgang Becker, 72-jähriger Jurist und Mitglied des Vorstands. Aber dann wird es langsam eng. Sehr eng. Nicht von ungefähr ist die personelle Situation des Vereins – schwindende Mitgliederzahlen, ausbleibender Nachwuchs – das Einstiegsthema beim Presse-Besuch im Heimatmuseum Spiesen. Steht und fällt doch die Zukunft dieses Hauses und aller seiner Sammlungen mit der Zukunft des Heimatvereins.

Wolfgang Becker und der 78-jährige Dieter Blankenagel haben ins Arbeits- und Sitzungszimmer gebeten. In der Ecke thront ein grüner gusseiserner Ofen, Baujahr 1900. „Der wurde nur einmal im Jahr angeheizt, wenn der Bischof kam“, erzählt Blankenagel. „Damals hatte der Bischof im Pfarrhaus ein eigenes Gästezimmer.“ Was einem auch sofort ins Auge springt, sind etliche alte Hochzeitsfotos an der Wand: „Das ist für die Schüler interessant“, begründet Becker die Auswahl. „Die gucken immer, ist da die Oma dabei.“ Aber zuvor heißt es: „Ach Gott, was hatten die denn an, wie sehen die aus.“ Erst in der vergangenen Woche war eine Grundschulklasse hier – und schwer begeistert. Dass es vielen Besuchern so geht, davon zeugen Einträge im Gästebuch wie dieser: „Danke für die interessante Führung. Das Vergangene war ganz nahe.“

Allein schon die Geschichte des Gebäudes, einem der ältesten Bauernhäuser Spiesens, ist hochinteressant. Urkundlich erwähnt wurde es erstmal 1771. Die Jahreszahl 1836, die über der Tür eingemeißelt ist, bezieht sich vermutlich nicht auf den Bau des Hauses, sondern auf einen Umbau unter Theobald Lion. Nach dem Konkursverfahren 1903 ersteigerte die Gemeinde sechs Jahre später Haus und Grundstück, Stallungen und zwei Wohnungen, um hier Stiere zu halten. Stiere? „Ja“, nickt Blankenagel. So kurios sich das anno 2019 anhört: Damals fühlte sich die Obrigkeit für die „Viehnachzucht im Bauerndorf Spiesen“ verantwortlich.

Seit Januar 2015 dient der rechte Teil des Gebäudes als Museum. Vorher waren die Exponate in dem Häuschen am Spieser Markt untergebracht, das die Marinekameradschaft gern übernahm – samt Wandbeschriftung. „Über ,Heimatmuseum’ haben sie einfach ,Maritimes’ geschrieben.“ Weit wandern musste der Heimatverein mit seinem Museum allerdings nicht. Lions Haus mit dem Gänseliesel-Brunnen davor befindet sich Luftlinie keine 500 Meter entfernt. Hier lernen die Besucher die geschichtlichen Perioden der Gemeinde von den frühesten Anfängen bis in die Gegenwart kennen. Anziehungspunkt im Erdgeschoss ist der Bergbau-Raum mit typischem „Gezäh“ wie Bohrmaschinen, einer Schaufel mit extrem kurzem Griff („mehr ging nicht“) oder Grubentelefone. Letztere sind die Highlights für die Kinder. Jedes Mal neu staunt Becker, welchen Spaß die „Generation Handy“ mit den über meterlange Kabel verbundenen einfachen Geräten hat: „Die gehen damit ganz weit bis in die Küche und telefonieren.“ Oft staunen die Mädchen und Jungen, wie anders die Stimmen dann klingen. „Wer ist dran?“, rufen sie in die Hörer oder „Wie geht’s dir?“.

Vieles von dem, was man hier sehen kann, ist Günter Debold zu verdanken. Der gelernte Elektriker fuhr früher auf der Grube Heinitz ein und hinterließ nach seinem Tod im November 2015 eine gewaltige Lücke im Verein. „Günter war kein Mann vieler Worte“, sondern einer, der die Ärmel hochkrempelte und loslegte. Das Heimatmuseum wurde ihm quasi zum zweiten Wohnsitz, „er hat es unermüdlich auf- und ausgebaut“, erinnert Blankenagel.

Nebenan befindet sich die Dauerausstellung „Mineralien und Kristalle“, Resultat der regen Sammlertätigkeit von Oswald König, dem mit 90 Jahren ältesten der aktuell 127 Mitglieder. Erklimmt man die schmale, knarzende Treppe ins Obergeschoss, wird man mit Einblicken in die kelto-römische Vorgeschichte und die bauliche Entwicklung des Ortes belohnt. Eines der bedeutendsten Ausstellungsstücke ist die Kopie eines Originaldokuments von 1195 mit der
Erstnennung Spiesens. Den daran anschließenden Raum dominiert eine fast lebensgroße Marienstatue, die früher vis à vis in der Marienkapelle stand. Einst von Gerhard Zimmer restauriert, fällt sie nun langsam dem Holzwurm zum Opfer. Ein Modell zeigt die frühere katholische Kirche, die 1875 mit der heutigen Kirche St. Ludwig überbaut wurde.

Zwingend zur hiesigen Kirchengeschichte gehört die der jüdischen Minderheit. Ihre knapp 150-jährige Ära dokumentierte Stephan Friedrich in seinem 300 Seiten umfassenden Buch „Wir sind Dornen geworden in fremden Augen“, welches die Grundlage für die Ausstellung bildet – angefangen im Jahr 1788, als Fürst Ludwig den Juden Schutz angedeihen lässt, bis zum Massenmord an 20 Menschen und der Emigration aller verbliebenen Gemeindemitglieder nach 1935. Besonders wertvoll sind diese Dokumente für die Nachfahren, von denen schon etliche aus Frankreich oder Schweden hierher pilgerten.

Verteilt auf beiden Etagen finden sich immer wieder einzelne Aquarelle der Spieser Künstlerin Elisabeth Bosslet – unverkennbar in ihrer linearen Konstruktion. Der Bosslet- Kalender, den die Kinder der 2017 verstorbenen Malerin herausgaben, wurde hier im Heimatmuseum vorgestellt. Was Methode hat, da man nicht nur reines Museum sein will. „Wir laden regelmäßig zeitgenössische Künstler ein, ihre Werke auszustellen“, darunter Dr. Jan Hrkal und Sabrina Fritsch. Zudem werden zweimal jährlich Vorträge zu regionalen historischen Themen angeboten. Nicht umhin kommt der Vorstand zudem, sich in den kommenden Jahren nebenbei mit der digitalen Erfassung aller Exponate zu beschäftigen.

Gut zu wissen: Sehr gern behilflich sind die Mitglieder des Heimatvereins Menschen, die Ahnenforschung betreiben. „Die können sich jederzeit an uns wenden“, betont Becker. Und wer weiß – vielleicht finden sich über diese Schiene doch noch ein paar jüngere, an Geschichte interessierte Spieser Bürger, die mit Lust und Liebe die Museumsarbeit unterstützen und irgendwann einmal weiterführen möchten.

Um schlussendlich noch mal auf die Stiere zurückzukommen: Die blieben nicht allein. Ab 1921 kamen noch vier gemeindeeigene Ziegenböcke hinzu. 1926 wurde die Stierhaltung von Spiesen und Elversberg zusammengelegt. Zwischendurch war das Haus Lion auch Polizeigefängnis. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg war Schluss mit Blöken und Meckern: 1957 wurde die Tierhaltung aufgegeben. Eine dramatische Wendung nahm die Sache in den 70er Jahre, in denen das Gebäude fast der Abrissbirne zum Opfer gefallen wäre. Zum Glück intervenierten der Heimatverein und viele Bürger: Weshalb das ehemalige Bauernhaus einer angesehenen jüdischen Familie seit 1979 unter Denkmalschutz steht. Für Rinder und Ziegen bleibt es allerdings tabu.

www.saarbruecker-zeitung.de/museen-im-saarland

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