Neunkirchen liest ... ökotopisch „Ich möchte Sie betroffen machen“
Neunkirchen · Schadensbegrenzung lautet die Mission von Nick Reimer, der in seinem Bestseller „Deutschland 2050“ klar aufzeigt, wie tief wir schon im Klima-Schlamassel stecken. Spaß machte seine Lesung nicht, wichtig war sie trotzdem.
Falls Sie es noch nicht wussten: Alle Saarländer werden in nicht allzu ferner Zukunft in Südfrankreich leben. Natürlich nicht geographisch. Klimatisch! Es wird dann auch hierzulande keine Fichten und kaum noch Buchen geben. Dachgeschosswohnungen sind nicht mehr hip, sondern unbewohnbar. Ortskerne in Tallagen, durch die Flüsse führen, haben keine Zukunft. (Bestes Beispiel das benachbarte Idar-Oberstein, wie Nick Reimer beim Blick aus dem Zugfenster auf der Herfahrt auffiel.) Trinkwasser wird knapp, dafür lernen wir neue Krankheiten kennen, wie das von der asiatischen Tigermücke übertragene Denguefieber. Extreme Hitze, aber auch Starkregenereignisse werden jedes Jahr mehr Menschenleben kosten. Vom monetären Aspekt ganz zu schweigen.
Aber irgendwie wird schon alles gut? Mitnichten. „Das einzige, was wir noch beeinflussen können, ist, ob sich die Lage dramatisch verschlimmert.“ Vielleicht war das der Grund, warum Reimer als Co-Autor des Spiegel-Bestsellers „Deutschland 2050“ im Arthouse Neunkirchen auf eine sehr überschaubare Anzahl Zuhörer traf. Seine Botschaft ist absolut spaßfrei, sein Job der des Mahners, Wachrüttlers, auf die Füße Treters – keiner, um den man ihn beneidet. Die Wahrheit kann man halt nicht schön reden. Von allen vier Szenarien, RCP 2.5 bis RCP 8.5, die die klimatische Zukunft Deutschlands mit erschreckender Treffsicherheit, rechnerisch sauber und fernab jeder Spekulation, prognostizieren, ist keines berauschend. Auch nicht der „best case“, sprich, wenn man sofort die Reißleine ziehen würde. Ob es uns passt oder nicht: So prima, wie es uns heute geht, wird es nie mehr.
Das hatte Reimer schon 2007 auf dem Schirm und in seinem ebenfalls mit Toralf Staud verfassten Buch „Wir Klimaretter. So ist die Wende noch zu schaffen“ transportiert. „Wir können die CO2-Emissionen bis 2020 halbieren, wenn wir nur wollten“, lautete damals die Botschaft. Technologisch sei das durchaus machbar. Nun: Vom damaligen Optimismus ist nicht viel übrig geblieben. Laut Bundes-Umweltamt lag der deutsche Ausstoß an Treibhausgasen 2021 pro Person, Export und Import von Gütern eingerechnet, im Durchschnitt bei 11,2 Tonnen und damit mehr als 60 Prozent über dem Weltdurchschnitt. Klimaverträglich wäre ein Pro-Kopf-Ausstoß von unter einer Tonne CO2-Äquivalenten. Heißt: Der Treibhausgasausstoß in Deutschland müsste um 95 Prozent gegenüber dem heutigen Stand sinken.
Doch was passiert? Kohle feiert ihr Comeback. Ein Tempolimit auf Autobahnen bleibt tabu. Alternative Mobilitätskonzepte: Fehlanzeige. Dafür wird Atomstrom hochgejubelt – obwohl die maßgeschneiderten Brennstäbe aus Russland kommen und er, als konstant eingespeister Sockelstrom, alternative Energien ausbremst. Windräder werden gegen Entschädigungszahlungen an die Betreiber zugunsten von Atomkraftwerken abgestellt, informierte Reimer, der desillusioniert bis genervt wirkte. Doch so träge die Politik auch agiere, letztlich sei sie nur „ein Abbild unserer Gesellschaft“. Und damit der Bereitschaft jedes Einzelnen, umzudenken und Verzicht zu üben. Im Publikum fühlte sich darob der eine oder die andere persönlich angegriffen. „Das war nicht meine Absicht“, äußerte Reimer, wohl wissend, dass in seinen Lesungen meist jene sitzen, die sich mühen und versuchen, ihren ökologischen Fußabdruck klein zu halten.
Aber warum tut sich allgemein so wenig, obwohl die Katastrophen schon forsch an die Tür klopfen? Da gingen die Meinungen der beiden Männer auf dem Podium – interviewt wurde der Journalist von Peter Schiwek, Mitarbeiter der mit gastgebenden Buchhandlung König – auseinander. Zum einen fehle es an Detailwissen. Meint Reimer. Zum Beispiel über die 17 Kippelemente, darunter der Grönländische Eisschild. Schmilzt er, steigt der Meeresspiegel weltweit um 7,4 Meter. „Hamburg ist dann nicht mehr zu halten.“ Beim Verlust des antarktischen Eises reden wir sogar von 58,3 Metern. „Die Welt wird eine gänzlich andere sein.“ Aber ursächlich sieht er das ganze Wirtschaftssystem: „Der Kapitalismus ist das Problem an sich.“ Schiweck und einzelne Zuhörer setzen lieber auf den individuellen Weg. Und alle irgendwie auf Vorbildwirkung. Denn zum Glück stirbt die Hoffnung zuletzt.
Beim dritten und letzten Termin der Veranstaltungsreihe „Neunkirchen liest … ökotopisch“ präsentiert Uwe Andresen am Dienstag, 19. Juli, ein literarisches Potpourri zum Gedanken „Das Klima – glaubt uns doch kein Wort“. Beginn ist um 19 Uhr. Veranstalter sind neben Bücher König die Stadtbibliothek Neunkirchen, die Katholische Erwachsenenbildung Saarbrücken sowie das „Momentum – Kirche am Center“.