Vor 100 Jahren Was Schiffweiler mit der Metzer Kathedrale zu tun hat

In meiner engeren Verwandtschaft ragen zwei Persönlichkeiten heraus, die seinerzeit als prominent galten, und auf die unsere Großfamilie nicht ohne Stolz zürückblickt: Der eine ist mein Urgroßvater Joseph Voltmer aus Schiffweiler, der mehr als 30 Jahre lang Orchesterchef der damals größten Bergkapelle an der Saar, der Bergkapelle Reden, war, und der mit seinen Musikern auch klassische Werke von Beethoven, Haydn oder Richard Wagner ertönen ließ.

 Porträt Paul Tornow, der 30 Jahre in Lothringen wirkte.

Porträt Paul Tornow, der 30 Jahre in Lothringen wirkte.

Foto: Manfred Voltmer

Der andere ist sein Schwager Paul Tornow, der ein halbes Jahrhundert lang als einer der damals renommiertesten Neogotik-Architekten Europas galt. Tornow war mit der Schwester meines Urgroßvaters, Anna-Maria Voltmer, verheiratet.

Der Schiffweiler Ortsteil Heiligenwald wurde wegen der engen Familienbande zur „zweiten Heimat“ der Tornows, obwohl sich die beiden bis zu ihrem Tod in Szy-Chazelles bei Metz häuslich niedergelassen hatten. Der Grund: Kaiser Wilhelm I. hatte Tornow zu seinem „Generalbaumeister“ des 1871 annektierten Lothringen ernannt, wo er für zahlreiche bekannte Bauwerke verantwortlich war, unter anderem für die Errichtung der Hauptfassade der Metzer Kathedrale, die im vergangenen Jahr bekanntlich ihr 800-Jahr-Jubiläum feiern konnte.

Den beiden Schwagern gemeinsam ist ein tragisches deutsch-französiches Schicksal, das sich im Frühjahr 1921, also vor genau hundert Jahren, ereignet hatte. Mehr darüber etwas später.

Am Bau des Justizpalastes in London war Tornow an entscheidender Stelle ebenso beteiligt wie an der Vollendung des Kölner Doms. Sein Hauptlebenswerk dürfte jedoch der Westfassadenbau der Kathedrale in Metz sein, wobei er es nach Überzeugung von internationalen Kunsthistorikern hervorragend verstand, Mittelalter-Gotik mit Neugotik geschickt zu verbinden.

Architekten aus halb Europa hatten ihn immer wieder konsultiert, wenn es um den Bau wichtiger Sakralbauten oder repräsentativer Rathäuser im Neogotik-Stil wie zum Beispiel dem berühmten Rathaus in München ging. Die „Deutsche Bauzeitung“ schwelgte damals in höchstem Lob: „Von Paul Tornow strömt eine künstlerische Kraft aus, mit der in Deutschland niemand mithalten kann!“

Der Kaiser machte ihn damals auch zum „Dombaumeister“ in Metz mit dem Ziel, die nach Meinung auch von französischen Bauhistorikern nicht stilgerechte halbklassizistische West-Fassade durch eine reine Gotik-Fassade komplett zu ersetzen.

Zusammen mit dem bekannten Pariser Bildhauer Auguste Dujardin, mit dem sich Tornow schnell anfreundete, gestalteten die beiden die gesamte Hauptfassade total um, so wie diese sich heute präsentiert.

Während der mehr als 30 Jahre, in denen Tornow in Lothringen wirkte, entstanden dort auch zahlreiche andere Neogotik-Bauten mit seiner Architekten-„Handschrift“, so die Wiedererrichtung des seit langem in Trümmern liegenden Burgturms in Forbach bei Saarbrücken, seit Tornows Wirken das Wahrzeichen der Grenzstadt. Oder auch die Rekonstruktion und Wiedererrichtung der bedeutenden mittelalterlichen „Porte des Allemands“ in Metz, aber auch der Bau der protestantischen „Kaiserkirche“ in Courzelles Chaussy, um nur drei wesentliche Beispiele zu nennen.

Wenn die beiden zu Besuch meiner Schiffweiler/Heiligenwalder Vorfahren kamen und dort natürlich auch über die neuesten Bauwerke Tornows sprachen, hieß es immer in der Verwandtschaft und zu den Kindern: „Am Wochenende kommt Tante Anna-Maria mit Onkel Paul zu uns – Ihr wisst ja, das ist der berühmte Baumeister aus Metz, der mit dem Kaiser befreundet ist.“

Meine Verwandten nahmen natürlich auch regen Anteil am späteren Schicksal von Paul Tornow und damit auch an dem meiner Urgroßtante Anna-Maria geb. Voltmer.

Schlimmstes gravierendes Ereignis: Ihr Mann Paul Tornow überwarf sich 1904 – kurz nach der pompösen Einweihung der West-Fassade in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II. ausgerechnet mit dem deutschen Monarchen. Bisher galten die beiden als „dicke Freunde“, aber als der Kaiser von seinem „Star-Architekten“ verlangte, er solle ihm doch auch noch einen Thron im Altar-Bereich der Kathedrale bauen, lehnte Tornow umgehend ab. Erst recht, als der Kaiser sich sogar in die Gestaltung der Wasser-Speier an der West-Fassade einmischte. Diese sollten als Karikaturen unbedingt die „Fratzen“ von Franzosen zeigen, die sich in den Augen des Kaisers gegenüber dem Deutschen Reich unbeliebt gemacht hatten!

Dieser Bruch war irreparabel. Der Kaiser empfand die Ablehnung quasi als Majestäts-Beleidigung. Paul Tornow wurde 1906 von seinen Aufgaben als Generalbaumeister in Lothringen entbunden. Tief verletzt geriet er in Depressionen, obwohl er von seinen zahlreichen französischen Freunden seelischen und moralischen Beistand erhielt.

All das vertraute er natürlich vor allem meinen in Heiligenwald lebenden Verwandten an. Diese bekamen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg auch mit, wie Tornow dann als Deutscher unter den Repressionen der französichen Behörden zu leiden hatte: Sie verfügten, dass Tornow am 7. Juni 1921 französischen Boden zu verlassen habe, und damit auch seine Wohnung in Szy-Chazelles bei Metz.

Dazu sollte es jedoch nicht mehr kommen: Am Vortag stürzte sich der völlig Verzweifelte in den Brunnen seines Wohnhauses, in dem ihn seine Haushälterin kurz darauf vorfand. Seine Frau, meine Urgroßtante, war bereits fünf Jahre zuvor, mitten im Ersten Weltkrieg, verstorben.

Zumindest hatten die französischen Behörden den letzten Wunsch von Paul Tornow respektiert, indem sie ihn im Grab seiner Frau auf dem Friedhof von Szy-Chazelles bestatten ließen – mit imposantem Blick auf die Metzer Kathedrale, sein Haupt-Lebenswerk.

2015 ist übrigens eine der geschichtsträchtigsten Straßen von Metz, unterhalb der Kathedrale, nach Paul Tornow benannt worden – mit Beschreibung seiner wichtigsten Funktionen auf den Schildern – eine wichtige, wenn auch späte Genugtuung für ihn. Es war eine Initiative von französischen Kunsthistorikern und Kommunal-Politikern und ein Akt gelebter deutsch-französischer Freundschaft.

Außerdem ist vor zehn Jahren durch das Engagement von französischen und deutschen Tornow-Enthusiasten dessen Grab in Szy-Chazelles neu gestaltet worden – mit einem repräsentativen Grabmal in neogotischem Baustil. Auf deutscher Seite war vor allem Lothar Birk aus Nalbach aktiv, der in den 60er Jahren Personenschüzter von Konrad Adenauer war.

Alle befanden, dass es sich im Fall Tornow um ein besonders tragisches deutsch-französisches Schicksal handelt.

Denn nach dem Bruch mit dem Kaiser in die „innere Emigration“ gegangen, musste Paul Tornow als Deutscher auch noch erdulden, dass er nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg sein liebgewonnenes Frankreich trotz seiner Verdienste und trotz seiner vielen lothringischen Freundschaften verlassen sollte!

Meinem Urgroßvater, dem Dirigenten Joseph Voltmer aus Schiffweiler, erging es kurz vor dem Tod seines Schwagers Paul Tornow auch recht schlecht: Während eines Frühlings-Konzerts im Mai 1921 im Klinkenthal, auf einem beliebten Festplatz nahe der Grube Reden, hatte es der Musiker gewagt, neben etlichen populären Orchester-Stücken auch einen beliebten preußischen Marsch zu dirigieren. Trotz – oder vielleicht gerade wegen dem provozierenden Riesenapplaus des zahlreichen Publikums folgte schon am nächsten Tag seine Entlassung als Orchesterleiter durch die zuständige französische Behörde, die ja nach dem Ersten Weltkrieg bekanntlich auch über die ausgeübte Kultur an der Saar wachte.

Diese beiden markanten tragischen Begebenheiten in meiner Verwandtschaft können auch als Beispiele dafür stehen, wie durch Verblendung nationalistischer Politiker Hass auf beiden Seiten der Grenze entstehen konnte, der schließlich zum Zweiten Weltkrieg führte! Gottseidank ist das alles Vergangenheit, und wir können gemeinsam längst die gelebte deutsch-französische Freundschaft genießen.

Noch ein kleiner Nachtrag zu meinem Urgroßvater Joseph Voltmer und zu dessen Schwager Paul Tornow: Nach der Zwangs-Pensionierung des Schiffweiler Dirigenten wirkte er im Raum Neunkircher bis zu seinem Tod 1931 noch für zehn Jahre als beliebter und kompetenter Geigenlehrer. Noch in seinem letzten Lebensjahr – da hatte er sich längst mit der Besatzungsmacht an der Saar ausgesöhnt – soll er sich über seinen „Streich“ in punkto preußischer Marsch gegenüber seinen Freunden spitzbübisch geäußert haben: „Ich bereue nicht, dass ich bei meinem letzten Konzert den Franzosen mal so richtig den Marsch blasen konnte!“

Und dass Paul Tornow im selben Ort begraben ist wie der große Europäer Robert Schuman, also in Szy-Chazelles, nimmt sich geradezu symbolisch aus: Auch Paul Tornow, der in halb Europa als Kulturschaffender gewirkt hatte, verstand sich bereits zu jenen Zeiten als „Pan-Europäer“, als von einem geeinten Europa noch kaum jemand zu träumen gewagt hatte.

 Die Kathedrale St. Etienne in Metz, gestaltet von Paul Tornow.

Die Kathedrale St. Etienne in Metz, gestaltet von Paul Tornow.

Foto: Manfred Voltmer
 Einweihungsfeier an der Metzer Kathedrale mit Kaiser und Gefolge.

Einweihungsfeier an der Metzer Kathedrale mit Kaiser und Gefolge.

Foto: Manfred Voltmer
 Joseph Voltmer mit seinem Orchester.

Joseph Voltmer mit seinem Orchester.

Foto: Manfred Voltmer
 Porträt Joseph Voltmer

Porträt Joseph Voltmer

Foto: Familienbesitz Hanne Voltmer-Döbrich

Mein Urgroßonkel Paul Tornow hatte, als Robert Schuman noch ein unbekannter Jugendlicher war, die mittelalterliche ehemalige Wehrkirche umfassend restauriert, in der der große Europäer 1963 nach seinem Tod bestattet wurde. Seither ist dieser geschichtsträchtige Sakralbau die wichtigste Robert-Schuman-Gedenkstätte mit jährlich Tausenden von Besuchern.

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