Erinnerung an die Nazi-Diktatur „Das Soldatische war Teil des Familiendenkens“

Ottweiler  Durch Zufall kam es, so schreibt der Pressesprecher der Stadt Ottweiler, Ralf Hoffmann, dass er  Werner Neufang, Jahrgang 1927, einen Ottweiler Bürger traf. Die Beiden sprachen über die 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts. Neufang erwähnte sein Buch „Jugendjahre in Kriegsgefangenschaft“ (2015). Darin blickt er auf die Zeit von seiner Kindheit bis zu seiner späten Heimkehr im Jahr 1949 zurück. Am Ende des Krieges war Neufang zunächst in amerikanische Gefangenschaft gegangen. Die US-Armee lieferte ihn wie auch seine Kameraden schon bald an die Sowjetarmee aus. Er leistete Zwangsarbeit in verschiedenen Lagern in der Ukraine, in Sibirien und in Weißrussland - ohne jemals an Kampfhandlungen teilgenommen zu haben. Hoffmann hat ein Interview mit ihm gemacht, das er der SZ zur Verfügung stellt.

Woran denken Sie, wenn von Ottweiler in früherer Zeit die Rede ist?

Neufang: An meine Familie, die Kindheit und Jugend im Dritten Reich, an den Zweiten Weltkrieg und an die Gefangenschaft. Mein Vater war Bergmann, meine Mutter Hausfrau. Ich hatte drei Geschwister - meinen Bruder Friedrich, genannt Fritz, meinen zweiten Bruder Helmut und meine Schwester Ingeborg. Mein Großvater Philipp, 1848 geboren, übermittelte meinem Vater militärisch-preußische Denktraditionen, so dass das Soldatische ebenso wie das Deutsch-Nationale bestimmender Teil des Familiendenkens war. Vater berichtete von seinen Kriegserlebnissen im Ersten Weltkrieg, von den Streitereien der Parteien der Weimarer Republik und vom Aufkommen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, in der er Mitglied wurde. So war es nicht verwunderlich, dass meine Brüder und ich dem Jungvolk und der Hitlerjugend beitraten…

Ich war ein Junge von elf Jahren, als ich von anderen Kindern erfuhr, dass die Synagoge am Schlosshof in Brand stehe. In der Mitte des Schlosshofes sah ich verbrannte Sachen in einem großen Feuer. Viele SA-Männer in brauner Uniform liefen herum und schleppten aus der am Platzrand stehenden Synagoge noch weitere Sachen heraus, die sie in das lodernde Feuer warfen… Schnell machte ich mich auf den Heimweg und erzählte das Geschehene meiner Mutter. Sie war entsetzt, erschüttert und sprachlos. Ich erhielt aber keine richtige Erklärung für die Vorkommnisse und wusste erst nach der Kriegsgefangenschaft, dass ich Zeuge der Reichspogromnacht gewesen war.

Meine Schulzeit endete zu Ostern des Jahres 1941 mit dem Volksschulabschluss. Ich begann ein freiwilliges Landjahr, eine vormilitärische Ausbildung. Während dieser Zeit außerhalb meiner Heimat kam eines Tages ein saarländischer Lagerkamerad auf mich zu. Er sagte mir, dass mein Name unter einer Todesanzeige für einen deutschen Kriegsgefallenen stehe. Mit Erschrecken musste ich die von meinen Eltern geschaltete Anzeige für meinen Bruder Fritz lesen, der bei Taranowska in Russland gefallen war. Nach der Zeit im Landjahr begann ich meine Ausbildung im Neunkircher Kaufhaus Koch. Die Ausbildung konnte ich nicht abschließen. Im dritten Lehrjahr wurde ich zum Reichsarbeitsdient abgerufen.

Schließlich stand während dieser Zeit eines Morgens ein Rekrutierungskommando der Waffen-SS in unserem Lager und sortierte die gesündesten Kameraden aus. Jeder „Auserwählte“ bekam einen Aufnahmeantrag vorlegt, den er unterschreiben musste. Ein Widerspruch schien uns allen unmöglich.

Es gab keine Alternative?

Neufang: Wir sahen keine. Ich war unfreiwillig Mitglied dieser Organisation geworden. Im Anschluss an die Entlassung aus dem Reichsarbeitsdienst und einem kurzen Aufenthalt in Ottweiler erhielt ich den Einberufungsbescheid. Ich sollte mich zum ersten Oktober in Stralsund melden. Mein Vater riet mir im Herbst 1944 zu, mich zu verstecken. Der Krieg gehe allmählich dem Ende zu. Die Alliierten stünden vor Metz. Er wollte nicht noch einen Sohn im Krieg verlieren. Aber die Nachrichtenlage war unklar. Zudem befürchtete ich bei einer möglichen Flucht die Verfolgung und Verhaftung meine Familie. Kurz vor Weihnachten 1944 war meine Ausbildung in Stralsund beendet. Schließlich ging es nach Laibach (Slowenien), dann in die Nähe von Linz (Österreich). Ich begab ich mich, ohne an Kampfhandlungen teilgenommen zu haben, in amerikanische Gefangenschaft und ahnte nicht, dass wir der Sowjetarmee ausgeliefert wurden.

Sie erlebten die entbehrungsreiche Zeit in Lemberg (Ukraine), Stalinsk, Prokopjewsk (Sibirien), Brest-Litowsk und Minsk (Weißrußland), überlebten und kamen erst 1949 nach ihrer Entlassung in ihre Heimatstadt zurück. Schließlich schlossen Sie Ihre Lehre im Neunkircher Bekleidungshaus Walter ab, arbeiteten im Saarbrücker Bekleidungshaus Leimbach und Klein und fingen im Ottweiler Modehaus Rennwald an. 1965 übernahmen Sie gemeinsam mit Ihrer ersten Frau Änne die Führung der Firma. Die Erinnerung an die Kriegsjahre und die Gefangenschaft ließen mit der Zeit nicht nach?

Neufang: Die Erinnerung erlosch nie. Aber anderes stand  im Vordergrund, die Gründung der Familie und später der Aufbau des Modehauses Neufang-Rennwald. Aber es war mir ein inneres Anliegen, die Umstände darzustellen, die meine Zwangsrekrutierung zur Waffen-SS bedingten. Fest steht, dass mein Schicksal, wie das vieler anderer Kameraden, die Buße für die politischen Verbrechen der verantwortlichen nationalsozialistischen Politiker war und wir auf dem Altar der Macht geopfert wurden.

Welche Lehre zogen Sie aus diesen Jahren oder was bewog Sie dazu, die Erlebnisse festzuhalten?

Neufang: Im irrigen Glauben an eine gute Sache sind wir zu Gefangenen unserer Zeit geworden. Vor dem Hintergrund eines erneuten Konfrontationskurses gegen Russland, aber auch angesichts der übrigen militärisch ausgetragenen Konflikte, an denen sich die Bundesrepublik wieder beteiligt, wollte ich meine einst gemachten Erfahrungen als Mahnung für die nachfolgende Generation mitgeben, die gleichen alten Fehler nicht zu wiederholen.

Die Fragen stellte Ralf Hoffmann

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