Kontrollverlust - wenn aus Genuss Sucht wird

Neunkirchen · Wie ist die AHG Münchwies aufgebaut und welche Arten der Abhängigkeit werden dort behandelt?Dr. Monika Vogelgesang: Unsere Klinik hieß früher psychosomatische Klinik Münchwies und wurde 1977 gegründet.

 AHG-Münchwies-Chefärztin Dr. Monika Vogelgesang. Foto: AHG

AHG-Münchwies-Chefärztin Dr. Monika Vogelgesang. Foto: AHG

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Wir haben in etwa 240 stationäre Plätze und ein kleine Tagesreha, dort werden Patienten aus der Region ganztägig ambulant behandelt. Zudem gibt es auch Nachsorgegruppen, diese richten sich an Patienten , die bereits eine Therapie absolviert haben, und weiterhin in Einzel- oder Gruppentherapie ambulant betreut werden möchten. Rund 35 Psychologen und 22 Ärzte sind für die Patienten hier zuständig. Neben Essstörungen wie Magersucht oder auch Fettsucht, behandeln wir vor allem Alkohol- und Medikamentenabhängige oder Patienten , die verschiedenste Suchtmittel kombiniert nehmen. Wir behandeln nicht Patienten , bei denen eine Heroinabhängigkeit im Vordergrund steht, diejenigen die man früher als "Junkies" bezeichnet hat. Wir führen immer erstmal Vorgespräche durch und schauen, ob die Leute zu uns passen und wir ihnen helfen können.

Inwiefern hat sich die Sucht in den vergangenen Jahren gewandelt? Wo ist eine Zunahme zu verzeichnen?

Vogelgesang: Es gibt deutlich mehr pathologische Glücksspieler, das sind vor allem Automatenspieler. Deutschlandweit sind wir die Klinik, die am längsten pathologische Glücksspieler behandelt. 20 Prozent der Suchtkranken, die wir hier in Münchwies betreuen, sind Glücksspieler. Zudem hat auch der pathologischen PC- und Internetgebrauch zugenommen, das sogenannte Gaming wie World of Warcraft und Shooterspiele. Anfang der 1990er Jahre war diese Sucht noch eher selten, die Tendenz ist jetzt aber steigend. Bei den PC- und Internetspielern ist eine vollkommene Abstinenz jedoch nicht möglich. Der Glücksspieler am Automaten muss das Automatenspielen lassen, der Alkoholabhängige darf nichts mehr trinken. Für den PC- und Internetgebrauch haben wir ein Ampelsystem entworfen. Rot ist zum Beispiel das Spielen von World of Warcraft , aber die Patienten dürfen selbstverständlich noch E-Mails schreiben oder Online-Banking machen.

Wie viele Suchtkranke wurden im vergangenen Jahr in der AHG Münchwies Klinik aufgenommen?

Vogelgesang: Wir haben im letzten Jahr in der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen 746 Patienten behandelt, im gesamten Hause waren es 1327 Patienten .

Wann ist die Grenze zur Abhängigkeit überschritten?

Vogelgesang: Es gibt eine Klassifikation, nach der man vorgeht. Falls drei der sechs Symptomkomplexe übereinstimmen ist die Grenze überschritten: 1. Das Suchtmittelbegehren 2. Der körperliche Entzug. 3. Die Toleranzentwicklung, dass heißt die Wirkung wird immer weniger und die daraus resultierende Dosissteigerung. 4. Die Vernachlässigung von Verpflichtungen, Interessen, Freunden und Familie. 5. Die Inkaufnahme der Selbstschädigung. 6. Der Kontrollverlust.

Die Risiken und Gefahren, die Alkohol, Drogen oder auch Glücksspiele mit sich bringen, sind allgemein bekannt. Warum werden dennoch so viele Menschen immer wieder süchtig?

Vogelgesang: Nehmen wir mal die Alkoholsucht - in der Bevölkerung sind die Gefahren der Droge bekannt, die Mehrzahl der Deutschen lernt auch den richtigen Umgang mit Alkohol. Es gibt aber auch eine kleine Gruppe, die das nicht lernt, und auch die genetische Veranlagung spielt eine große Rolle, oft zieht sich eine Sucht wie ein roter Faden durch die Familien. Andererseits gibt es Leute, die den Alkohol nur kurzfristig als Hilfe nutzen möchten, zum Beispiel ein Bier vor dem zu Bett gehen, um die Schlafprobleme einzudämmen. Irgendwann lässt aber die Wirkung nach und man braucht immer mehr von der Droge. Zudem ist auch Geselligkeit ein Aspekt - manche wissen nicht, wann es genug ist und können schlecht den Konsum stoppen. Vor allem bei Jungs ist es ein Männlichkeitsideal, möglichst viel zu trinken. Es gibt jedoch nicht nur die Sucht, sondern auch den schädliche Gebrauch von Alkohol und Medikamenten. Wenn Alkohol oder Medikamente die Sorgen dämpfen sollen oder die Droge überverhältnismäßig oft eingesetzt wird und so dem Körper Schaden zugefügt wird.

Wie kann einem Abhängigen geholfen werden? Können Familienmitglieder oder Freunde helfen, obwohl der Suchtkranke seine Abhängigkeit noch nicht erkannt hat?

Vogelgesang: Immer und immer wieder fürsorglich und liebevoll der Person versuchen klar zu machen, dass er auf einem ganz gefährlich Weg ist. Vorwürfe nützen nichts, aber wenn es einem Abhängigen schlecht geht, sollte man ihm eine Entgiftung nahelegen. Nur eine Entgiftung hilft aber nicht, denn 95 Prozent der Patienten , die keine therapeutische Behandlung absolvieren, werden wieder rückfällig. Andererseits gibt es auch erste Beratungsstellen. Zu empfehlen ist die Motivierung der Abhängigen psychosoziale und Suchtberatungsstellen aufzusuchen, wo erforderlich auch mit sanftem Druck. Hier kann eine Suchterkrankung abgeklärt werden und Hilfen können aufgezeigt werden. Weiterhin können Psychiater, Nervenärzte und Psychotherapeuten versuchen, den Betroffenen in Richtung einer Entwöhnung zu motivieren. Der Besuch von Suchtselbsthilfegruppen ist für die Betroffenen empfehlenswert, weiterhin gibt es Angehörigengruppen für die Angehörigen von Suchtkranken.

Wie läuft die Behandlung in der AHG Münchwies Klinik ab?

Vogelgesang: Es sollte zuvor eine Entgiftung in einem Krankenhaus durchgeführt werden. Danach kommen die Patienten zu uns. In der Anfangsphase finden täglich Visiten statt und die Leute lernen, welche Schäden und Wirkungen die Suchtmittel haben. Es wird geschaut, ob die Patienten keine körperlichen Entzugserscheinungen mehr haben. Nach einer Woche ziehen die Patienten in einen therapeutischen Wohnbereich, das sind Einheiten von rund zwölf Suchtkranken. Dort finden dann sechsstündige Gruppentherapiesitzungen am Tag statt, es kommen Sport und Ergotherapie hinzu.

Wie lange dauert es bis ein Abhängiger abstinent wird?

Vogelgesang: Im Schnitt dauert die Therapie zehneinhalb Wochen. Man kann sagen, dass 60 Prozent auf jeden Fall abstinent bleiben. Ein Jahr nach der Therapie findet auch eine Kontrolle statt.

Wie oft wird ein Patient wieder rückfällig?

Vogelgesang: Ganz selten gibt es Rückfälle während der Therapie in der Klinik. Klassisch passiert es, wenn die Patienten unterwegs sind. Ab und zu kommt es mal vor, dass die Suchtkranken eigentlich nur einen gemütlichen Shopping-Tag im Saarpark-Center verbringen möchten und später plötzlich mit einem Bier in einer Kneipe sitzen. Unsere Patienten sind alle freiwillig in der Klinik, dennoch empfehlen wir, dass sie in den ersten 14 Tagen die AHG Münchwies nicht verlassen sollen.

Wie lange arbeiten Sie schon mit Suchtkranken?

Vogelgesang: Ich arbeite bereits seit 30 Jahren in der Psychotherapie, 26 Jahre davon in Münchwies. Zwischenzeitlich war ich auch mal in der Psychiatrie der Homburger Uniklinik sowie in der Neurologie und Inneren Medizin in St. Wendel tätig.

Können Sie die persönlichen Schicksale der Patienten nach Feierabend hinter sich lassen?

Vogelgesang: Ich habe große Hochachtung vor den Menschen, die eine Therapie oder Abstinenz durchhalten. Meine eigene Laufbahn ist von vielen Erfolgserlebnissen mit den Patienten gekennzeichnet, daher fühle ich mich auch nicht hilflos. Wenn jemand noch mal rückfällig wird, ist das kein Weltuntergang oder bedeutet, dass die Therapie fehlgeschlagen ist. Was man braucht, ist ein langer Atem. Das Hinfallen ist keine Schande, sondern eher das Liegenbleiben, denn der Weg zur Abstinenz ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Ich denke auch zu Hause viel über meine Patienten nach, lese, schreibe viel und überlege, was und wie man die Behandlung noch besser machen kann. Worunter ich leide, sind nicht meine Patienten , sondern die zunehmende Bürokratisierung. Man muss heutzutage so viel Papierkram ausfüllen, das raubt Unmengen von Zeit und war früher deutlich einfacher.

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