Im Wohnzimmer fliegen die Fetzen

Wiebelskirchen · Der junge Theaterverein Spieltrieb brachte das ambitionierte Stück „Eine Familie“ von Tracy Letts nach Wiebelskirchen - und siegte auf ganzer Linie.

 Der Waldmohrer Theaterverein „Spieltrieb“ gastierte an zwei Tagen mit großen Erfolg mit dem Stück „Eine Familie“ im Kulturhaus Wiebelskirchen. Foto: Jörg Jacobi

Der Waldmohrer Theaterverein „Spieltrieb“ gastierte an zwei Tagen mit großen Erfolg mit dem Stück „Eine Familie“ im Kulturhaus Wiebelskirchen. Foto: Jörg Jacobi

Foto: Jörg Jacobi

Wohl dem, der eine Familie hat: Menschen, die einem sagen, dass man zu faul, zu verpeilt, zu egoistisch ist und zu allem Überfluss auch noch die falsche Frisur hat. Ivy zum Beispiel. Die hat sich die Haare glätten lassen. Was ihrer Mutter Violett übel aufstößt. Wie überhaupt das ganze Kind, das sich nie schminkt oder mal was Nettes anzieht und sich dann auch bitteschön nicht wundern muss, wenn es nie einen Mann abkriegt - Ende der Standpauke. Solche Szenen gehören zum Alltag der Familie Weston. Die hat Autor Tracy Letts als Prototyp einer amerikanischen Mittelstandsfamilie angelegt, ein Clan, der sich am liebsten selbst zerfleischt und sich bis zum Ende des langen Abends gründlich demontiert hat. Was die Zuschauer im Kulturhaus Wiebelskirchen auf hohem Niveau unterhielt, ihnen aber auch einiges abverlangte.

Belohnt für diese emotionale Tortur wurden sie mit prägnanten Charakterdarstellungen, intelligentem Humor und saftigen Dialogen, die Regisseurin Sibille Sandmayer in ein spießiges Wohnzimmerambiente einbettet. In einem Prolog aus dem Off outet sich der Hausherr, ein gescheiterter Dichter, als Trinker. Seine Gattin Violet ist tablettensüchtig. Ob und wie das eine das andere bedingt, bleibt offen. Fakt ist: Der Mann ist verschwunden. Woraufhin Violet die Familie zusammen trommelt.

Und so finden sich alle ein, erst zum Wundern und Mutmaßen über das Verschwinden, später zum Leichenschmaus des freiwillig aus dem Leben Geschiedenen. Da ist die älteste Tochter Barbara, von Sibille Sandmayer als energische Powerfrau dargestellt, die sich zusehends in eine Kopie der Mutter verwandelt. Ähnlich rabiate Züge weist ihre Tante Mattie Fae alias Christine Mehlhorn auf. Die gibt die quietschfidele Fitnessjüngerin, hackt aber bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf ihrem Sohn Little Charles herum. Dessen Versagerrolle hat Jannik Rosinus fast erschreckend verinnerlicht, so dass jede Geste, jedes Wort Ausdruck seines Scheiterns werden. Die beiden jüngeren Töchter Ivy (Ida Jacobi), ein devotes Daueropfer der Mutter, und Karen (Victoria Ohlmann), ein endlos plapperndes Dummchen, haben den verbalen Attacken der Mutter nur wenig entgegen zu setzen. Aus diesem Reigen der Bürgerlichkeit sticht Maxine Staut als pubertierende, Drogen konsumierende Enkelin Jean nicht nur optisch heraus. In ihrer fast Domina-reifen "Verpackung" begehrt sie gegen alles auf und verbündet sich ausgerechnet mit der zwielichtigen Stevie (Linda Panter), Karens Verlobter.

Kein Zweifel: Hier kommen in der Summe einige Jahrzehnte Schauspielerfahrung zusammen. Dank der Klasse des 2015 in Waldmohr gegründeten Ensembles und einer stringenten Regie wirken auch die zartbitteren Momente des Innehaltens authentisch.

Etwa, wenn sich Babs und ihr untreuer Ehemann (Rainer Dochow-Meister) ehrlich die Meinung sagen oder Charlie (Enrico Tinebra) von seiner Frau Mattie endlich Respekt für den erwachsenen Sohn einfordert. Schön auch die Stutenbissigkeit der beiden alten Weston-Schwestern: Wenn sie, durchaus selbstironisch, über das Verfallsdatum von Frauen lästern, ist kurz Aufatmen im Zuschauerraum angesagt.

Aber nur kurz. Denn die Mission von Violett, die sinnigerweise an Mundkrebs leidet, duldet keine Pause: Sie vernichtet psychisch jeden um sich herum, der versucht, eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Monika Groß, die ihrem Namen alle Ehre macht, legt Violet als narzisstische Monstermutter an, die längst in der Hölle gelandet ist. "Hast du Angst?", fragt Ivy die kranke Mutter. "Natürlich", lautet die überraschend ehrliche Antwort. Alles wäre noch schlimmer, gäbe es da nicht diesen Engel: das Hausmädchen. Melanie Kamara mimt sie als zwar junge Angestellte, aber vom alten Schlag. Höflich, diskret und fromm. Sie leidet still am Unvermögen dieser Anti-Familie: "So geht die Welt zugrunde." Wer wollte ihr da widersprechen.

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