Ebenezers Seelenstriptease

Neunkirchen · Die Schaubühne Neunkirchen präsentiert das Weihnachtsmärchen „Humbug?“, frei nach Charles Dickens in der ausverkauften Gebläsehalle. Ein inspirierender Abend.

 Das Weihnachtsmärchen „Humbug?“ nach Charles Dickens wurde in der Gebläsehalle Neunkirchen aufgeführt. Foto: Thomas Seeber

Das Weihnachtsmärchen „Humbug?“ nach Charles Dickens wurde in der Gebläsehalle Neunkirchen aufgeführt. Foto: Thomas Seeber

Foto: Thomas Seeber

. "Wenn es nach mir ginge, sollte jeder Schwachkopf, der mir mit ,Fröhliche Weihnachten' kommt, in seinem eigenen Pudding gekocht und mit einem Stechpalmenpfahl mitten durchs Herz begraben werden." Na, das ist mal eine Ansage! Man könnte Ebenezer Scrooge, Inhaber des Warenhauses "Scrooge and Marley", dafür um den Hals fallen: Endlich mal jemand, der Tacheles redet und aus seiner Abneigung dem Weihnachtsfest gegenüber kein Hehl macht. Wenn - ja wenn Scrooge nicht so ein Kotzbrocken wäre, geizig, herzlos und egozentrisch bis ins Mark. Einem solchen Vollpfosten ein ganzes Theaterstück zu widmen, erscheint riskant. Wer bitteschön soll sich damit schon identifizieren? Aber Charles Dickens wusste sehr wohl, dass wandelbare Charaktere sehr viel spannender sind als statische. Wie befreiend, wenn ein Widerling zum Menschenfreund mutiert, was am Sonntagabend 1000 junge, ältere und erwachsene Kinder in der ausverkauften Gebläsehalle mitverfolgen durften.

Mit mehr als 40 Darstellern im Alter von neun Jahren bis über 50 führte die Schaubühne dort das Weihnachtsmärchen "Humbug?" auf, basierend auf Dickens "A Christmas Carol" von 1843. Man fühlte sich oft an die großen Produktionen des Neunkircher Musicals erinnert, wozu Massenszenen genauso beitrugen wie das aufwendige Bühnenbild (Thomas Waldura), das alle Handlungsorte im London des 19. Jahrhunderts vereinte: Scrooges Schlafzimmer mit dem massiven Himmelbett, das Büro samt Schreibtisch und Stehpult, Straßen und Friedhof, die adretten Salons der Whitefiels und Fezziwigs sowie das Wohnzimmer der Familie Cratchit mit dem langen Esstisch. Zur gelungenen Zeitreise trugen die wunderbaren Kostüme (Ulla Karst und Julia Matheis) bei und eine etwas hölzerne, gespreizte Sprache - eine große Leistung, gerade auch der vielen jüngeren Mimen.

Und es wurde gesungen (Musik: Oliver Fries, Hans-Peter Bode), nicht zu viel und nicht zu wenig: ein sehr gelungenes Sahnehäubchen dank geschulter Stimmen. Ganz besonders in Erinnerung bleiben wird hier neben dem kleinen Tiny Tim (Angelina Leclerc) und seinem kristallklaren Gesang besonders der herzensgute Edward Whitfield (Christian Steinborn) und die Eheleute Fezziwig (Nicolas und Carina Schneider).

Doch das alles wäre nichts ohne eine gute, versierte Regisseurin, wie sie mit Angela Heintz zur Verfügung stand - und einem glaubwürdigen Ebenezer Scrooge. Die Rolle verlangte Robertus Koppies einiges ab: Nicht nur, dass es fast keine Szene während der 100 Minuten Spielzeit gab, in die er nicht involviert war. Den Seelenstriptease, mit dem diese Nacht vorm Weihnachtsfest für ihn einher geht, muss man erst mal meistern. Koppies vermochte das und erblühte nach dem Besuch der drei recht harmlosen Geister zu einer Seele von Mensch. Ab diesem Zeitpunkt gab es für jede gute Tat von Scrooge erleichterten Szenenapplaus aus dem Saal. Am Schluss dann stehende Ovationen für eine großartige Ensembleleistung und einen inspirierenden Abend. Oder wie es Zuschauerin Heike Lismann-Gräß im Anschluss strahlend formulierte: "Ich bin noch ganz geflasht."

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