Die 68er Die akademische Jugend auf den Barrikaden

Neunkirchen · 50 Jahre danach erinnert sich ein Neunkircher an das Umbruchsjahr 1968 mit den Studentenrevolten in Paris.

 Der Studentenführer Daniel Cohn-Bendit spricht zu den ihn begleitenden, mehreren hundert Studenten, nachdem ihm am 24. Mai 1968 am Grenzübergang „Goldene Bremm“ bei Saarbrücken die Einreise nach Frankreich verweigert worden war. Cohn-Bendit war maßgeblich an den Mai-Unruhen 1968 beteiligt. Die  französische Regierung verwies ihn als deutschen Staatsbürger des Landes. 

Der Studentenführer Daniel Cohn-Bendit spricht zu den ihn begleitenden, mehreren hundert Studenten, nachdem ihm am 24. Mai 1968 am Grenzübergang „Goldene Bremm“ bei Saarbrücken die Einreise nach Frankreich verweigert worden war. Cohn-Bendit war maßgeblich an den Mai-Unruhen 1968 beteiligt. Die  französische Regierung verwies ihn als deutschen Staatsbürger des Landes. 

Foto: picture-alliance / dpa/dpa Picture-Alliance/Roland Witschel

Von wegen „ganz Paris träumt von der Liebe“! Die Schockbilder des 11. Mai 1968 entsetzten die Paris-Liebhaber in aller Welt: Hunderte ausgebrannter Autos im Quartier Latin und auf dem Boulevard Saint-Michel. Dazu Berge von Pflastersteinen und ungläubig dreinblickende Passanten. Die „Nacht der Barrikaden“ hatte ihre Spuren hinterlassen. Der erste Höhepunkt der Studentenrevolte an der Seine. 60 Barrikaden waren von der Polizei gestürmt, über 600 Personen festgenommen worden, 400 Verletzte auf beiden Seiten. Das seit 1958 von General de Gaulle (1890 bis 1970) regierte Frankreich geriet an den Rand des Chaos.

Galionsfigur der rebellierenden Studenten war der 22-jährige Soziologiestudent Daniel Cohn-Bendit („Dany le Rouge“), dessen Eltern 1933 vor den Nationalsozialisten nach Paris geflohen waren. Zunächst protestierte man gegen das Besuchsverbot in Studentinnen-Heimen, dann gegen den Vietnamkrieg, gegen die Franco-Diktatur und andere Übel der westlichen Welt. Die akademische Jugend erhob sich gegen das verbürgerlichte Frankreich. Über allem schwebte das Traumbild einer sozialistischen Gesellschaft.

Gymnasiasten und Arbeiter schließen sich den Aufständischen an, Protestumzüge auch in der Provinz. Schwere Zusammenstöße mit der Polizei, Gummiknüppel, Molotow-Cocktails, Pflastersteine, Tränengasbomben. Bürgerkrieg liegt in der Luft. Fabrikbesetzungen, Generalstreik. Am 24. Mai streiken zehn Millionen. Frankreich ist wie gelähmt. Im Hof der Sorbonne finden ausgelassene „Happenings“ statt. Im Hintergrund riesige Porträts von Marx und Engels, Lenin, Mao und Che Guevara.

Wandzeitungen verkünden die Botschaft des großen Freiheitsfestes. Eine einzige Kampfansage an das „alte Frankreich“. Man wünscht sich die „Phantasie an die Macht“ („L‘imagination au pouvoir!“), widerspricht der Fremdbestimmung („Il est interdit d‘interdire!“), träumt vom Aussteigen („Sous les pavés, la plage!“) und frönt dem Genuss („Droit à la jouissance!“). Schlechte Zeiten für die etablierten Autoritäten. Nicht nur die Eltern reagieren hilflos, auch die Regierung.

Erst zögert de Gaulle, am 30. Mai geht er in die Offensive. Er löst die Nationalversammlung auf, mobilisiert eine halbe Million Anhänger auf den Champs-Elysées und erringt die absolute Mehrheit im Parlament. Doch sein Nimbus ist gebrochen. 1969 tritt er zurück, 1970 stirbt er. Das Ende einer Ära. Professor Wilfried Loth (*1948), ein Saarbrücker, nennt den Mai `68 in seinem neuesten Buch „fast eine Revolution“. Er hatte autoritäre Strukturen aufgebrochen, altgewohnte Konventionen erschüttert, die Selbstbestimmung des Einzelnen und die Emanzipation der Frau vorangetrieben. Das im Pariser Mai gipfelnde neue Denken fand auch außerhalb Frankreichs Zuspruch. Nicht zuletzt im Saarland, wo sich im Sommer 1968 das alte Ritual der von Festreden und Orchesterklängen umrahmten Abiturfeiern seinem Ende zuneigte. Die obligatorischen Pressefotos zeigten artig gekleidete junge Herren mit Anzug und Krawatte und Mädchen in feinen hochgeschlossenen Kleidern. Nun strebten sie neuen Ufern zu. Doch das konservative Outfit täuschte. Spuren des geänderten Zeitgeistes hatten auch ihre letzten Schuljahre geprägt. Sogar einen Schülerstreik mit unerlaubtem „Fernbleiben vom Unterricht“ hatte es damals an den Neunkircher Gymnasien gegeben.

Das Hinterfragen der Dinge war Mode geworden. Das brachte alten
Gewissheiten ins Wanken. Das Establishment“, wie man neuerdings sagte. Der Begriff war in der deutschen Provinz noch ungewohnt. Beweis: Ein Zeitungsbericht von der Abiturfeier am Neunkircher Lyzeum. Dort war vom aktuellen Protest der Jugend gegen das „Etablissement“ die Rede. Etablissement gleich Freudenhaus, belehrte damals der Duden. So mies jedenfalls wie in der Erinnerung Kurt Tucholskys (1890 bis 1935), der 1925 kein gutes Haar an ihr gelassen hatte, war die Schule gut vier Jahrzehnte später nicht mehr. Sie war zum Beispiel — mit Klassensprecher, Schülermitbestimmung und Schülerzeitung — demokratischer geworden. Aber ganz demokratisch? Wie lästig empfanden es manche Lehrer, wenn die Schüler sie mit Fragen löcherten, weil sie den Dingen auf den Grund gehen wollten. Wenn sie etwa nach der Legitimation von Autoritäten fragten. Wer Pech hatte, galt dann eben als frech und kassierte eine schlechte Betragensnote. Nahm ein Oberstufenschüler die Kant’sche Devise („Wage es, dich deines Verstandes zu bedienen!“) ernst, riskierte er mitunter harschen Widerspruch. Da konnte ein sonst so jovial auftretender Direktor plötzlich den autoritären Pauker hervorkehren: „Wenn du das sagst, mach ich dich fertig!“ So beschied er dem Abiturientensprecher, dem Autor dieser Zeilen. Weil er in seiner Abschiedsrede den Sinn des sogenannten „Turnabiturs“ zu erörtern vorhatte und auch für die musischen Fächer ein eigenes Abitur forderte. Das war im Juni 1968, auf dem Höhepunkt der Mai-Revolte an der Seine! Würde jetzt endlich Schluss sein mit der vielfach noch sehr präsenten autoritären Bevormundung, fragten sich die angehenden Erstsemester? Schluss mit der geistigen Enge und den Denkverboten? Wie es die Pariser Studenten vorgemacht hatten? Mit deren Zielen und Protesten gegen das harte Einschreiten der Pariser Polizei solidarisierten sich am 13. Mai 1968 einige hundert Studenten vor dem französischen Generalkonsulat in Saarbrücken.

Volles Haus herrschte in der Uni-Aula am 24. Mai 1968 bei einem „Teach-in“ mit Daniel Cohn-Bendit. Der inzwischen berühmte Studentenführer war aus Frankreich ausgewiesen worden. Vier Tage später tauchte er wieder, gut getarnt (schwarzes Haar, rauchige Brillengläser) und begeistert gefeiert, an der Pariser Sorbonne-Universität auf. Natürlich marschierte man auch in Saarbrücken gegen die Große Koalition in Bonn, für Entspannung und Abrüstung und für eine reformierte Universität. Größere Zwischenfälle auf dem Uni-Campus unterblieben während des Rektorats von Professor Werner Maihofer (1967 bis 1969), kleinere nicht. Die geflügelten Worte der Saar-Achtundsechziger waren die der ganzen Republik. „Unter den Talaren, Muff von tausend Jahren!“, tönte es konservativen Professoren entgegen. „Strassenbahn nimmt uns das Brot — Studenten leiden große Not!‑, klagten jugendliche Protestler bei der Aktion „Roter Punkt“ gegen höhere Fahrpreise in Saarbrücken. Die abendliche Polizeiaktion mit Knüppeleinsatz nutzte der „Spiegel“ zu bissiger Polemik gegen die „katholische Saar, wo Deutschland am frömmsten und am ärmsten ist.“

Jenseits der Politik rieb sich der neue Zeitgeist vor allem an den Eltern. „Trau keinem über Dreißig!“, „Make love, not war“ oder „Zur Sache, Schätzchen“, wie es Filmsternchen Uschi Glas 1968 in ihrem kecken Kinohit hauchte.

Nach der Protestzeit kam der „Marsch durch die Institutionen“. Eine Karriereleiter für prominente Achtundsechziger, soweit sie nicht wie etwa Horst Mahler in den Terrorismus abglitten. Joschka Fischer schaffte es zum deutschen Außenminister. Daniel Cohn-Bendit avancierte vom Bürgerschreck zum Kommentator des Zeitgeschehens. Der in den 68er Jahren einsetzende Wandel der Normen und Werte dauert an. Viele Tabus sind gefallen, andere werden wohl noch fallen.

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