Der Preis des Individualismus

Kreis Neunkirchen · Die katholischen wie evangelischen Gemeinden im Kreis Neunkirchen registrieren einen deutlichen Mitgliederschwund. Vom Anspruch Volkskirche müsse man sich verabschieden, konstatieren der katholische Pfarrer Michael Wilhelm und die evangelische Pfarrerin Britt Goedeking. Die Botschaft Jesu bleibe aber wichtig.

Die Zahl der Christen in Deutschland ist im Sinkflug. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche hat rückläufige Mitgliederzahlen. Die Süddeutsche Zeitung hat vor Kurzem von einem dramatischen Schwund gesprochen. Der Aderlass lässt sich auch im Kreis Neunkirchen nachzeichnen. Nach Auskunft der Bischöflichen Pressestelle Trier hat das Dekanat Neunkirchen - dazu gehören die Pfarreien Neunkirchen , Schiffweiler und Spiesen-Elversberg - binnen fünf Jahren (zwischen 2010 und 2014) 1979 Köpfe verloren. Im Dekanat Illingen - mit den Pfarreien Eppelborn, Illingen, Merchweiler und Ottweiler - waren es 3246. Beide Dekanate zusammen hatten mithin 5225 Katholiken weniger (minus 6,31 Prozent) im Vergleich zu 2010, als es in der Summe noch 82 762 waren. Eine aktuelle Zahl hatte die Pressestelle nicht.

Bei den Protestanten sieht es nicht besser aus. Der Kirchenkreis Ost, erläutert Pressereferent Helmut Paulus, hat im gleichen Zeitraum 1824 Mitglieder (minus 6,26 Prozent) verloren. Zum Kreis Neunkirchen gehören die Kirchengemeinden Dirmingen, Elversberg, Heiligenwald, Landsweiler-Schiffweiler, Neunkirchen , Ottweiler und Uchtelfangen. Am 30. Juni vergangenen Jahres waren 27 312 evangelische Christen in diesen Gemeinden registriert. Paulus betont, der Rückgang sei nicht zuletzt auch Ausdruck des demographischen Wandels. Die schrumpfende Bevölkerung ist auch für den Neunkircher Pfarrer Michael Wilhelm ein wichtiger Aspekt in der Diskussion. Aber der katholische Geistliche benennt auch ein anderes Phänomen: "Der Glaube verdunstet. Das ist ein Prozess über Jahre und Jahrzehnte." Die Entwicklung müsse man in aller Nüchternheit erkennen. Früher sei der Mensch von der Wiege bis zur Bahre Mitglied der Kirche gewesen, heute sei alles punktueller. Ein schmerzhafter Prozess für einen Mann Gottes? "Es lässt mich schon fragen, wo geht das hin? Aber wir müssen uns nüchtern eingestehen, dass die Zeit der Volkskirche vorbei ist. Davon müssen wir uns freimachen", sagt Wilhelm. Er sieht auch positive Aspekte in den Veränderungen. So seien in Neunkirchen seit 2007 vier Pfarreien fusioniert. In der Kirche St. Mariae kämen heute wieder mehr Christen zum Gottesdienst, die Gemeinde wachse zusammen. Schmerzlich sei es, Gotteshäuser zu entweihen. Aber in Heinitz, wo St. Barbara abgerissen worden ist, fänden die Gottesdienste jetzt im Pfarrhaus oder der alten Schule statt. Das käme gut an. Wilhelm: "Wir haben etwas losgelassen, aber wir entdecken Neues." Eine Projektgruppe in der Pfarrei suche nach Chancen für die lokale Kirchenentwicklung. Im "Momentum - Kirche am Center" engagierten sich 60 Ehrenamtliche. Am Storchenplatz bei der Piuskirche bilde sich ein Gesprächs- und Glaubenskreis. Alles Dinge, die den katholischen Pfarrer zuversichtlich stimmen.

Britt Goedeking betrachtet die Austritte in ihrer Kirche gleichermaßen differenziert. Die Pfarrerin der evangelischen Gemeinde Neunkirchen-Innenstadt sagt: "Persönlich habe ich keine Angst davor, wenn die Kirche keine Volkskirche mehr ist. Aber die Entwicklung hat etwas Bedauerliches. Wir müssen überlegen, was danach kommt." Die Menschen fühlten sich immer weniger gebunden, erklärt sie die Entwicklung, sie wüssten nicht mehr, was Kirche für sie in ihrer Biographie zu leisten vermöge. Das Dazugehörigkeitsgefühl sei bei vielen verloren, ein Preis des Individualismus. Das lasse sich auch im Vereinsleben verfolgen. Kirche werde oft nur noch punktuell wichtig, stimmt sie mit dem katholischen Pfarrer überein, etwa bei Eheschließungen oder Bestattungen. Die Menschen sähen eher die Möglichkeit, mit einem Austritt die Kirchensteuer zu sparen.

Im Presbyterium und auf Synoden ist die Entwicklung diskutiertes Thema. Über die Zahl der Austritte informiere sie das Presbyterium in regelmäßigen Abständen. Goedeking spricht von "lebendigen Gesprächen", die es über dieses Thema gebe. Wo steht die Amtskirche? Wo will sie hin? Um die Botschaft Jesu ist der Pfarrerin jedenfalls nicht bange, die bleibe wertvoll zu jeder Zeit, sagt sie.

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