Bildband über Neunkircher Straßenbahn „Noch jemand ohne Fahrschein?“

Neunkirchen · Im November erscheint ein Bildband zur Geschichte der Neunkircher Straßenbahn. Bilder und Dokumente aus öffentlichen und privaten Sammlungen lassen die Zeit der „Schdròòßebahn“ wieder aufleben.

 1978: „Anlauf“ für den Anstieg Hüttenbergstraße, aus der Stummstraße kommend. Rechts der Eisengießer neben der Christuskirche.

1978: „Anlauf“ für den Anstieg Hüttenbergstraße, aus der Stummstraße kommend. Rechts der Eisengießer neben der Christuskirche.

Foto: NVG/Archiv NVG

Mit der Einstellung des Straßenbahnbetriebs endete vor 40 Jahren, genauer am 10. Juni 1978, ein bedeutendes Kapitel des öffentlichen Nahverkehrs in Neunkirchen, das bis heute viele Menschen bewegt und nichts von seiner Faszination verloren hat. Nahverkehrsexperte Roland Priester und Journalist Stephan Lücke präsentieren mit dem am 14. November 2018 erscheinenden Bildband „Die Neunkircher Straßenbahn“ eine spannende Reise in die Vergangenheit der Neunkircher Straßenbahn, die einst auf Deutschlands steilster Strecke verkehrte. Rund 140 zumeist unveröffentlichte Aufnahmen und Dokumente aus öffentlichen und privaten Sammlungen erinnern an die Anfangsjahre, den stetigen Ausbau des Verkehrsnetzes, den mühevollen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg, die Modernisierungen in den 60er Jahren, als die legendären GT4-Wagen Einzug hielten, und an den emotionalen Abschied der Neunkircher von ihrer geliebten „Schdròòßebahn“ nach 71 Jahren. Hier ein Vorgeschmack:

„Noch jemand ohne Fahrschein?“ – dieser Satz war im saarländischen Neunkirchen zum letzten Mal am Nachmittag des 10. Juni 1978 zu hören. Um 16.17 Uhr fuhren zwei festlich geschmückte und mit Ehrengästen besetzte Straßenbahnwagen vom Depot bis zur Steinwaldstraße und von dort zurück bis zum Stummdenkmal in der Neunkircher Innenstadt. Dort wurden sie endgültig von einem Bus der Marke MAN abgelöst. Die Neunkircher Straßenbahn, die aufgrund der enormen Steilstrecke an der Hüttenbergstraße eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte, war nach 71 Jahren Betriebsjahren Geschichte.

Die Anfänge der Neunkircher Straßenbahn reichen zurück bis zur Jahrhundertwende. In Saarbrücken hatte es ab 1890 Dampf-Straßenbahnen gegeben, die seit 1899 elektrisch fuhren. Zu dieser Zeit wurde der Ruf nach einem solchen modernen Verkehrsmittel auch in der rund 30 Kilometer entfernten Gemeinde Neunkirchen (sie erhielt erst 1922 Stadtrechte) lauter. Die vergleichsweise geringe Einwohnerzahl und die ungünstige Topografie des Gemeindegebiets und der umliegenden Ortschaften schienen den Bau einer Straßenbahn jedoch zunächst als reines Wunschdenken erscheinen.

Neuer Schwung kam in die Diskussion, als 1904 ein Großkraftwerk in Neunkirchen gebaut wurde. Dieses würde auch die Möglichkeit bieten, günstig Strom für einen Straßenbetrieb zu beziehen. Eine Kommission empfahl den Bau einer Straßenbahn sodann in einem Gutachten. Der Gemeinderat folgte dieser Empfehlung und beschloss 1906 den Bau einer normalspurigen Straßenbahn von der Scheib bis zum Hangarder Weg in Wiebelskirchen.

Die 5,3 Kilometer lange Strecke wurde am 10. September 1907 mit einer Einweihungsfahrt feierlich eröffnet, der reguläre Betrieb im 15-Minuten-Takt folgte drei Tage später. Zum Betriebsstart standen elf zweiachsige Zweirichtungswagen mit offenen Plattformen und Rollenstromabnehmern des Kölner Herstellers Van der Zypen zur Verfügung.

Obwohl von Beginn an eine schnelle Ausweitung des Netzes in die umliegenden Ortschaften geplant war, dauerte es ganze 20 Jahre, bis eine zweite Linie eingerichtet wurde. Am 9. April 1927 wurde schließlich die 4,5 Kilometer lange Strecke nach Spiesen eingeweiht. Diese begann in Neunkirchen an der Saarbrücker Straße und führte über Dechen und Heinitz bis nach Spiesen. Für die neue Strecke wurden sechs neue Triebwagen und zwei Anhängewagen bei der französischen Firma Constructions electriques de France (CEF) bestellt. Alsthom lieferte die elektrische Ausrüstung. Die zweiachsigen Triebwagen wiesen eine geschlossene Bauweise mit Schiebetüren auf. Der Grund, warum die Neunkircher Wagen aus französischer Produktion stammten, waren die hohen Importzölle für Lieferungen aus dem Deutschen Reich. Das damalige Saargebiet stand nach dem verlorenen Weltkrieg unter französischer Verwaltung. An der Endhaltestelle bestand Anschluss an die Saarbrücker Straßenbahn.

Im gleichen Jahr wurde die bestehende Strecke von der Scheib bis zum Steinwald verlängert und von der Linie 2 befahren, die ihr anderes Ende am Bahnhof hatte. Die von Wiebelskirchen kommenden Fahrten endeten als Linie 1 weiterhin auf der Scheib. Die Zuführung von der Bahnhofstraße zum Depot wurde zudem um einen halben Kilometer bis zum Schlachthof verlängert und an die Linie 3 nach Spiesen angeschlossen.

1931 folgte dann die Inbetriebnahme der Verlängerung nach Heiligenwald. Die neue Linie 4 begann am Stummdenkmal und verlief zunächst gemeinsam mit der Spieser Linie über die Saarbrücker Straße bevor sie dann Richtung Plättchesdohle abbog. Anschließend führte sie über die Redener Straße nach Sinnerthal, Landsweiler und Reden und endete am Sachsenkreuz in Heiligenwald. Das Streckennetz der Straßenbahn umfasste nun 19 Kilometer und hatte damit seinen Höhepunkt erreicht.

Im Jahr 1938 kaufte die Neunkircher Straßenbahn AG fünf gebrauchte Triebwagen von der Rheinischen Verkehrsgesellschaft in Düsseldorf der Hersteller Weyer/AEG bzw. Waggonfabrik Uerdingen/AEG.

Der Zweite Weltkrieg brachte erhebliche Schwierigkeiten für den Straßenbahnbetrieb mit sich. 1940 musste der Fahrgastverkehr auf dem Abschnitt Dechen – Spiesen komplett eingestellt werden, weil die Strecke für den Bau einer Feldbahn zum Transport von Kriegsgütern benötigt wurde. Erst ab dem 1. November 1941 fuhr die Straßenbahn von Neunkirchen wieder bis Spiesen. 1942 war auch der bevölkerungsreiche Stadtteil Wiebelskirchen durch die Sperrung der Bahnhofsbrücke für mehrere Monate vom Straßenbahnverkehr abgeschnitten.

Ab Mitte 1944 kam es durch Bombenangriffe immer wieder zu Schäden an den Bahnanlagen, wobei die Betriebsunterbrechungen nie länger als ein paar Tage dauerten. Ein vorläufiges Ende des Straßenbahnbetriebs verursachte dann jedoch weniger als zwei Monate vor Kriegsende ein massiver Luftangriff am 15. März 1945. Die verheerende Bilanz: Zerstörung der Stromversorgung und der Verwaltungsräume, Verlust dreier Triebwagen und große Schäden an den übrigen Fahrzeugen, zudem Trümmer zerstörter Gebäude auf den Gleisanlagen.

Noch vor Kriegsende konnte die Strecke vom Stummdenkmal nach Spiesen wieder instandgesetzt werden. Es folgten im Laufe des Jahres 1945 die weiteren Außenstrecken nach Heiligenwald, Wiebelskirchen und zum Schlachthof. Nur die Arbeiten an der wichtigen Stammlinie den Hüttenberg hinauf und weiter zur Scheib dauerten bis ins Folgejahr an. Am 27. Januar 1946 konnte aber auch dieser Streckenabschnitt wieder für den Verkehr freigegeben werden. Am 18. März des Jahres folgte schließlich das Stück zum Steinwald. Das gesamte Netz war nun zwar wieder befahrbar; viele Reparaturen waren aber nur behelfsmäßig erfolgt. Die vollständige Sanierung des Netzes sollte das Verkehrsunternehmen noch über Jahre hinweg belasten.

In den Nachkriegsjahren bis 1950 stiegen die Betriebskosten bei gleichzeitigem Rückgang der Fahrgastzahlen. Als kostengünstige Alternative zur Straßenbahn wurde der Oberleitungsbus, kurz Obus, auserkoren. Die erste Obus-Linie ersetzte ab dem 1. August 1953 die Linie 4 nach Heiligenwald. 1954 wurde der Abschnitt vom Bahnhof nach Wiebelskirchen vom Straßenbahnnetz abgetrennt und auf Obus-Betrieb umgestellt. Der Obus konnte sich in Neunkirchen elf Jahre halten und wurde dann von Dieselbussen abgelöst.

Die Steigung von 11,07 Prozent an der Hüttenbergstraße war rekordverdächtig – nirgendwo in Deutschland gab es eine steilere Straßenbahnstrecke. Doch die Steilstrecke ging auch mit Gefahren einher, die mehrfach zu teilweise dramatischen Unglücken führten. Große Aufregung bei der Bevölkerung gab es beim zweiten schweren Unfall in der Geschichte der Neunkircher Straßenbahn im Jahr 1922 am Hüttenberg. Ein ähnlicher Unfall geschah an gleicher Stelle fünf Jahre zuvor. Ursache für das Unglück war, dass der Fahrer des Straßenbahnwagens mit zu hoher Geschwindigkeit in die Kurve in Höhe der Christuskirche fuhr, sodass der Wagen entgleiste. Beim Aufprall durchbrach dieser die Mauern eines Kaffeegeschäfts.

1932 passierte das dritte schwere Unglück, bei dem ein aus Spiesen kommender Triebwagen samt Anhänger in der Saarbrücker Straße entgleiste und auf die andere Seite der Straße geschleudert wurde. Durch die Wucht des Aufpralls löste sich der Anhänger, während der Triebwagen die Mauer auf der anderen Straßenseite durchbrach und zur Hälfte über eine Böschung ragend zum stehen kam. Nur ein kleines Stück weiter hätte der Wagen hinab ins Wasser stürzen können. So blieb es bei vier schwer und einigen leicht Verletzten.

Zu einem dramatischen Unglück mit zwei Toten und mehreren Schwerverletzten kam es 1959: Ein defektes Auto blockierte das Gleis am Hüttenberg und damit die Weiterfahrt der Straßenbahn. Der Straßenbahnfahrer wollte die Bahn ein Stück zurückzusetzen, damit der Pkw selbst von seinem Fahrer von der Straße bewegt werden konnte. Kaum war die Bremse gelöst, setzte sich der Straßenbahnwagen an dem steilen Hang rückwärts in Fahrt. In Höhe der Christuskirche stieß er auf einen leeren Bus und drückte diesen durch die Schaufensterfront eines Möbelhauses. Weiter bergabwärts kollidierte die Bahn noch mit einem Lieferwagen, bevor sie dann nahe des Stummdenkmals endlich zum Stehen kam.

1961 hielt bei der Neunkircher Straßenbahn ein völlig neuer Wagentyp Einzug, der die zunehmend auf Substanz gefahrenen, teilweise schon mehrere Jahrzehnte alte Wagen ablöste: der GT4 der Maschinenfabrik Esslingen. Es handelte sich um mittels eines Gelenks verbundene Triebwagen mit vier Achsen und zwei Drehgestellen. Für insgesamt zwei Millionen DM wurden acht Großraumfahrzeuge erworben, die mit ihrer Länge von 18 Metern insgesamt 160 Fahrgästen Platz boten. Aufgrund des Steilstreckenabschnitts verfügten die Wagen über einen Allachsantrieb. Der steile Hüttenberg war der Grund, warum überhaupt noch einmal neue Wagen bestellt wurden – denn damals galt es noch als unmöglich, die Steigung von 11,07 Prozent mit Bussen zu bewältigen.

Infolge von Zechenschließungen in der Region gingen Mitte der Sechzigerjahre die Fahrgastzahlen stark zurück, sodass die Linie 3 vom Stummplatz bis Spiesen auf Busbetrieb umgestellt wurde. Die restliche Strecke vom Stummplatz zum Schlachthof wurde der Linie 2 hinzugefügt. Vom Steinwald kommend fuhr nun jeder dritte Wagen zum Schlachthof, die anderen jeweils wie gehabt zum Bahnhof. Die Neunkircher Straßenbahn war nunmehr mit einer Streckenlänge von nur noch 5,4 Kilometern zum kleinsten Betrieb in der Bundesrepublik geschrumpft.

 Aufnahme von 1978 von der zuletzt verbliebenen Linie 2 zum Hauptbahnhof (von dort kommt der abgebildete Wagen), sowie zum Depot und weiter zum Schlachthof über Wellesweilerstraße (rechts).

Aufnahme von 1978 von der zuletzt verbliebenen Linie 2 zum Hauptbahnhof (von dort kommt der abgebildete Wagen), sowie zum Depot und weiter zum Schlachthof über Wellesweilerstraße (rechts).

Foto: NVG/Archiv NVG

Die Steilstrecke sorgte dafür, dass die einzig verbliebene Linie der Neunkircher Straßenbahn noch mehr als zehn Jahre durch die Hüttenstadt fuhr. Doch Mitte der 70er Jahre waren Omnibusse mit verbesserter Technik am Markt verfügbar, die auch auf der Steilstrecke betriebssicher fahren konnten. Eigentlich sollte die Straßenbahn bis zur Abschreibung der GT4-Wagen im Jahr 1980 noch am Leben erhalten werden, doch aufgrund der erneuerungsbedürftigen Gleise und der zunehmenden Behinderungen des Verkehrs durch die Straßenbahn wurde Ende 1977 beschlossen, die Straßenbahn vorzeitig Mitte 1978 einzustellen.

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