Koalitionsvertrag Auch Einsamkeit wird versteckt

Neunkirchen · Ist Hilfe gegen soziale Isolation Aufgabe des Staates? SZ-Gespräch mit Neunkircher Seelsorgern.

 „Wer einsam ist, dem fehlt das Gefühl, anerkannt und gebraucht zu werden“, sagt der Einsamkeitsforscher John Cacioppo 

„Wer einsam ist, dem fehlt das Gefühl, anerkannt und gebraucht zu werden“, sagt der Einsamkeitsforscher John Cacioppo 

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Zeile 5586 bis 5590 des Koalitionsvertrages zwischen CDU/CSU und SPD (deren Mitglieder gerade drüber abstimmen) beschäftigt sich im Kapitel „Heimat mit Zukunft“  mit Einsamkeit. Zweimal fällt der Begriff in den drei Sätzen (siehe „Info“). Die Parteien, so heißt es, begreifen das Bekämpfen von Einsamkeit durchaus als staatliche Aufgabe. London als Vorbild für Berlin? „Einsamkeit ist Regierungssache“ – diese Schlagzeile ging im Januar durch die Medien: Großbritanniens Regierung schafft im Kampf gegen soziale Isolation einen neuen Ministerposten. Regierungschefin Theresa May: „Einsamkeit ist die traurige Realität des modernen Lebens.“ Betroffen vor allem ältere Menschen. Laut britischem DRK führen etwa 200 000 Senioren in Großbritannien nur einmal im Monat ein privates Gespräch. Beziehungslosigkeit, Kontaktarmut, Vereinzelung gehe allerdings durch alle Altersgruppen.

Das Signal von der Insel entfachte auch eine Diskussion in Deutschland.  Thema enttabuisieren, den Betroffenen eine Lobby geben, Maßnahmen koordinieren, Einsamkeit aus der Schmuddelecke holen war zu lesen und zu hören.  Gern zitiert wurden Studien-Aussagen wie Einsamkeit ist genauso gesundheitsschädigend wie das Rauchen von täglich 15 Zigaretten, wiegt stärker als Übergewicht, lässt wegen psychischem Stress den Blutdruck steigen, schwächt das Immunsystem, verkürzt die Lebenserwartung, fördert Demenz, macht depressiv, antriebslos, müde ohne Schlaf zu finden, nervös, reizbar, kann gar Selbstmord-Gedanken wecken.

Nachdenklich skeptisch bewerten Britt Goedeking und Oswald Jenni Engagement gegen Einsamkeit als staatliche Aufgabe.  „Wie kann der Staat das leisten?“, fragt der Diakon aus der katholischen Pfarrei St. Marien Neunkirchen im Gespräch mit unserer Zeitung. Der Staat könne Rahmenstrukturen schaffen, aber es brauche ein breites Bündnis,  den Menschen wieder in den Blick zu nehmen. „Achtsamkeit“ – von jedem einzelnen.  „Achtsamkeit – genau der richtige Begriff“, sagt Goedeking, Pfarrerin in der evangelischen Kirchengemeinde Neunkirchen mit Wirkungskreis Innenstadt. Auch sie fragt: „Wie soll der Staat das machen? In unserer Gesellschaft geht es nach dem subsidiären Prinzip. Das sollte auch für das Thema Einsamkeit so sein.“ Also nur dort, wo untere Einheiten Aufgaben nicht lösen können, greifen übergeordnete Einheiten, greift der Staat ein.  Sonst, so befürchtet Goedeking, blähe sich vor allem Verwaltungsarbeit auf. Kirchengemeinden und andere Institutionen kümmern sich, sagt Goedeking: „Aber die müssen vom Staat auch gesehen werden.“ Menschen, sagen beide Seelsorger, können sensibel, empathisch, achtsam sein - aber der Staat?

Die Pfarrerin erkennt in unserer Gesellschaft „Tendenzen zum Wachstum von Einsamkeit“: Wenn die digitale Welt die Bindung zur realen Welt löst. Zugespitzt: „Wer nicht auf WhatsApp ist, wird nicht wahrgenommen.“  Goedeking weiter: „Begegnung in Echtzeit ist unersetzlich.“

Jenni schaut regelmäßig bei einer über 90-jährigen Frau vorbei. Sie verlässt ihre Wohnung nicht. Sie  lebt nahezu ohne Kontakte.  „Ich glaube nicht, dass sie leidet“, sagt Jenni.  „Manche finden sich mit ihrer Einsamkeit ab“, sagt Goedeking. „Und abfinden, das ist für mich was ganz Trauriges.“

Es braucht Energie, um Einsamkeitsschranken zu durchbrechen, wissen beide Seelsorger. Und Einsamkeit wird auch gern versteckt.  „Ich glaube, mir hat noch kein Mensch direkt gesagt: Ich bin einsam“, sagt Jenni. Es sei mehr zu fühlen, zu spüren. Fassade aufrechthalten, das, so Goedeking, gilt in unserer Gesellschaft für viele Phänomene: Gebrechlichkeit verstecken, Armut verstecken und eben auch Einsamkeit verstecken. Besuchskreise in beiden christlichen Gemeinden der Stadt beispielsweise versuchten, achtsam zu sein. Menschen, die „nicht gesehen werden“ zu sehen. Aber es werde nicht leichter, Frauen und Männer für diese Aufgabe zu finden. Auch der ökumenische Lebendige Adventskalender sei solch ein Angebot des Zusammenkommens, des Gesehenwerdens: „Unscheinbar, aber da passiert’s“, sagt Goedeking.

 Oswald Jenni

Oswald Jenni

Foto: Thomas Seeber
 Pfarrerin Britt Goedeking

Pfarrerin Britt Goedeking

Foto: Jörg Jacobi

Einsamkeitsforscher John Cacioppo formulierte: Wer einsam ist, dem fehlen nicht einfach Menschen, sondern das Gefühl, von ihnen beachtet zu werden, anerkannt und gebraucht. Altersforscher Oliver Huxhold stellt mit Blick auf einen großen Anteil Beziehungsloser in der Gesellschaft fest: „Jeder kennt also jemanden, der einsam ist.“ Statistisch.

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