Adventszeit früher Als Hamstern zum Volkssport wurde

Die Adventszeit 1947 war in Neunkirchen und Umgebung geprägt von Hunger, Schwarzmarkt und Kalorien-Träumen.

 Auf dem Schwarzmarkt waren zur Adventszeit 1947 auch für die Menschen in Neunkirchen Zigaretten ein besonders begehrtes Tauschgut.

Auf dem Schwarzmarkt waren zur Adventszeit 1947 auch für die Menschen in Neunkirchen Zigaretten ein besonders begehrtes Tauschgut.

Foto: Bundesaarchiv Bild

Es ist auch dieses Jahr das gewohnte Bild. Verstopfte Straßen, ausgebuchte Parkplätze, überfüllte Innenstädte. Dazu das unvermeidliche Gedränge all überall auf bunt glitzernden Weihnachtsmärkten. Kastanien, Glühwein und Geschenkartikel in Hülle und Fülle. Im Hintergrund umschmeicheln süßliche Weisen das kauffreudige Publikum. Vorweihnachtszeit 2017. Warteschlangen an den Kassen und meist fröhliche Gesichter signalisieren Konsum- und Lebensfreude. Flüchtlingskrise hin, zerplatzte Jamaika-Hoffnungen her. Umweltbewusste regen sich immerhin wegen der Müllberge auf, die der Weihnachtskommerz nach sich zieht.

Ganz andere Sorgen plagten die Menschen vor 70 Jahren, auch im Saarland, das Ende 1947 bereits von Deutschland abgeriegelt war und seiner eigenen Wege ging. Die Spuren des Krieges waren noch allgegenwärtig, die Stimmung gedrückt. Millionen von Vertriebenen hatten im Osten die Heimat verloren, Hunderttausende Soldaten waren noch in Kriegsgefangenschaft. Die allgemeine Versorgungslage war katastrophal. Not regierte die Stunde. Übergewicht plagte niemanden, Kohldampf war angesagt. Die Lage war dramatisch.

Der Hunger stehe nicht vor der Tür, er sei „bereits im Haus“, meldete Mitte 1945 ein französischer Gesundheitsexperte nach Paris. Daran hatte sich zwei Jahre später nur wenig geändert. Wie erlebten die Leser der damals mit vier Textseiten noch sehr dünnen Saarbrücker Zeitung in der Adventszeit 1947 das regionale Zeitgeschehen in Homburg, Neunkirchen und Umgebung? Wir blätterten im Neunkircher Stadtarchiv in den schon brüchig gewordenen Zeitungsseiten des zu Ende gehenden zweiten Nachkriegsjahres. So gut wie täglich drehen sich amtliche Mitteilungen, Berichte und Kommentare um das zentrale Thema der Zeit, die Ernährung.

Da geht es Anfang November um Probleme bei der Anlieferung der vor der Landtagswahl vom 5. Oktober 1947 versprochenen 8000 Tonnen Kartoffeln aus Frankreich, von denen erst knapp die Hälfte eingetroffen sei. Da wird das Ausbleiben von 600 Tonnen Bohnen moniert, die infolge mangelnder Organisation seit über einer Woche in Ludwigshafen gelagert seien. Es fehle an Waggons zur Lieferung von Kartoffeln aus dem Rheinland, von Getreide und Mehl aus Duisburg und von dringend benötigtem Zucker, verlautete aus der Verwaltungskommission. Um Schäden abzuwenden, seien die Kartoffeln beim Transport mit Kartoffelkraut abzudecken. Denn Stroh sei keines da.

Das Essen beherrscht das Sinnen und Trachten der Menschen. „Wir alle denken nur noch in Kalorien“, Tag und Nacht, gesteht der Reporter Mitte November. Kein Tag vergehe ohne „ernste Unterhaltung“ über die Beschaffung von Kartoffeln und Brot, Gemüse und Obst. Je mehr sich Weihnachten nähert, umso häufiger tauchen in der Gedankenwelt der Hausfrauen „Gänsen, Hühner und andere Delikatessen“ (18. Nov. 1947) auf. Sie unterhalten sich, schreibt der Reporter, über edle Speisen, die sie seit Jahren nur noch vom Hörensagen kennen:

Über fette Weihnachtsgänse, Hühner, Fleisch- und Fischkonserven. Sie träumen von feinsten Konfitüren, lockenden Pralinen und echtem Bienenhonig, von Kisten voller Obst und Südfrüchte. „Kurzum“, fasst der
Chronist zusammen, man träumt von lukullischen Gerichten und schwört sich, „wochenlang nur zu essen und zu schlemmen“. Weitere Lebens- und Genussmittel vom französischen Nachbarn werden in Aussicht gestellt und vielfach schon in den Geschäften vorbestellt, obwohl sie noch gar nicht geliefert wurden. Man wollte nicht zu spät dran sein und leer ausgehen.

Derweil sahen sich die Kommunen mit der Bewältigung der Hinterlassenschaften des Krieges konfrontiert. Etwa die Stadt Neunkirchen, deren Bürgermeister Friedrich Brokmeier laut SZ-Bericht Ende November 1947 im Stadtrat ungeschminkt Zwischenbilanz zog. Der Bombenkrieg hatte die Hüttenstadt (nicht nur die, auch Homburg, Zweibrücken waren stark betroffen) aufs Schwerste getroffen, 60 Prozent der Wohn- und Arbeitsstätten zerstört, 1100 Soldaten und 350 Zivilisten - laut Festschrift zum 25-jährigen Stadtjubiläum am 1. April 1947 - das Leben gekostet. Der Bürgermeister beschönigte in seinem Arbeitsbericht nichts, nannte die derzeit herrschende Stimmung gedrückt und verwies auf die mehr als problematische Ernährungslage und die schlechten Wohnverhältnisse als Ursachen.

In der Hüttenstadt standen seit Kriegsende für 12 000 Familien nur 9900 Wohnungen zur Verfügung. Demnach fehlten an die 3000 Behausungen. Zwischen April und August 1947 waren laut Bürgermeister 149 Wohnungen, 400 Einzelzimmer und 29 Gewerberäume wieder instandgesetzt worden, Notbauten für Wohnungssuchende seien am Boxberg geplant. Der Rathauschef bedauerte den fortbestehenden Mangel an Brennmaterial, also Holz aus dem Staatsforst und Kohlen für den Hausbrand aus den Gruben. Nicht die Stadt, unterstrich er, sondern die französische Militärregierung sei hier zuständig.

Trotz des verbreiteten Mangels an allem Möglichen gab es auch Licht am Horizont. Neue Fabriken seien projektiert, und zwar für Schuhe, Pharmazeutika, Baustoffe und Glühbirnen. Eine im Binsental geplante Textilfabrik werde 400 Beschäftigten Arbeit bieten insbesondere Frauen und Körperbehinderten. Einmütig forderte der Stadtrat die Wiederinbetriebnahme des Eisenwerkes. Dessen zentrale Bedeutung hatte der Bürgermeister in der erwähnten Festschrift herausgestellt: Die Hüttenstadt sei erst „über den Berg“, wenn dort wieder aus allen Essen die Rauchwolken steigen, die Walzwerke lärmen und wieder 5000 Männer schaffen.

Nur beiläufig erwähnt der Sitzungsbericht die vom Schweizer Hilfswerk auch in Neunkirchen durchgeführte Kinderspeisung. Damit war die großzügige Spendenaktion der vom Krieg verschonten Schweizer zur Linderung der Not im Nachkriegs-Saarland gemeint. Damals kamen nach amtlichen Erhebungen in Saarbrücken zwischen 20 und 50 Prozent aller Kinder mit leerem Magen zur Schule, weil sie zu Hause weder Brot noch Kartoffeln hatten. Am bedürftigsten waren die Stadtteile Burbach und Malstatt, ähnlich prekär die Verhältnisse in Neunkirchen. Was der Chronist im Frühjahr 1946 aus Bildstock berichtete, galt in jener Zeit auch andernorts: Viele Schulkinder kamen nicht zum Unterricht, weil sie zu schwach waren, keine Kleider oder wetterfeste Schuhe besaßen. Die Schweizer Spende bestand aus zusätzlichen Lebensmitteln und war für Schulkinder, Kleinkinder, Säuglinge sowie werdende Mütter gedacht. Ihre Dimension war enorm. Bis zum 1. April 1948 gingen 450 000 Kilo Lebensmittel nach Saarbrücken, 70 000 Kilo nach Neunkirchen und 55 000 Kilo nach Saarlouis. In Bildstock bekam im Jahr 1947 jedes Schulkind täglich einen Weck von 80 Gramm, gespendet von einem Hilfswerk der amerikanischen Mennoniten. Angesichts des weltweiten Entsetzens über die allmählich bekannt werdenden Verbrechen des NS-Regimes waren derartige Hilfsaktionen des Auslandes für die jetzt Not leidenden Deutschen keine Selbstverständlichkeit. Gleich zwei Mal wurden die Leser der Saarbrücker Zeitung in der Adventszeit 1947 an die antijüdischen Gewalttaten der so genannten Reichskristallnacht (9./10. November 1938) erinnert.

Anlass waren Prozesse gegen die dafür Verantwortlichen SA- und NSDAP-Funktionäre (15 in Losheim, 17 in Schiffweiler) vor einer Sonder-Strafkammer des Saarbrücker Landgerichts. Bei der „Judenaktion von Losheim“ (SZ v. 2. Dez. 1947) war es zu „wüsten Ausschreitungen“ gegen die jüdischen Familien Herrmann und Hanau gekommen. In Schiffweiler richtete sich die von der Hitlerpartei organisierte „ruchlose Schandtat“ (SZ v. 13. Dez. 1947) gegen den - wie es hieß - bis dahin geachteten und beliebten jüdischen Metzgermeister Haas. Es war der typische Ablauf: Wohnung und Geschäftsräume wurden demoliert und unter Zuhilfenahme von Benzin niedergebrannt, der fast 60-jährige Metzger Haas in „Schutzhaft“ genommen und ins Konzentrationslager Buchenwald (bei Weimar in Thüringen) verbracht, wo er später „verschied“. Typisch auch das Verhalten der Beschuldigten und Zeugen: Man konnte sich „nicht mehr entsinnen“, keinen der Mittäter mehr erkennen. Neun der 17 Schiffweiler Angeklagten wurden zu Zuchthaus (zwei bis drei Jahre) beziehungsweise Gefängnis (fünf Monate bis unter drei Jahre) verurteilt, die übrigen freigesprochen.

Verglichen mit den Verbrechen des untergegangenen NS-Regimes waren andere Meldungen der Regionalzeitung, so sehr sie auch Versorgungsengpässe und andere Alltagsnöte thematisierten, noch halbwegs erträglich. Manche sogar kurios. Es war vor 70 Jahren ein offenes Geheimnis: Was man dringend brauchte, aber nicht hatte, musste man sich „besorgen“, notfalls auch unter Umgehung von Gesetzen. Viele Kinder versäumten damals den Unterricht, weil sie mit auf Hamsterfahrt mussten, heißt es in einem Schulbericht. Hamstern war zum Volkssport
geworden.

Die SZ drückte sich vor diesem „heiklen Thema unserer Tage“ nicht. Sie brachte in einer Reportage („Wer kann es ihnen verübeln?“, 13. Nov. 1947) sogar Verständnis auf für Notleidende, vielfach seien es Frauen und Mütter, die „zur Selbsthilfe greifen“: Sie gehen auf die Halde, schinden sich Hände und Knie und schlagen dem Grubenwächter „ein Schnippchen“, um Kohlen zu raffen, manchmal bis zu drei Zentnern. Die werden nach beschwerlicher Eisenbahnfahrt beim Bauer im Hunsrück gegen Lebensmittel getauscht.

Und abends geht‘s zurück mit vollem Rucksack. Wer könnte es ihr verdenken, fragt der Reporter, „einer Mutter, die zwei, drei, vier kleine Trabanten ihr eigen nennt“, die alle Hunger haben. Ein „Beispiel mütterlicher Aufopferung“, trotz mehrerer Gesetzesverletzungen, übt sich der Reporter in Milde. Im Rheinland nannte man das „Fringsen“, den Kohlenklau in einer extremen Notlage, in Anlehnung an die Silvesterpredigt 1946 des volkstümlichen Kölner Erzbischofs Joseph Kardinal Frings.

Eine andere Art des Tauschgeschäfts begegnete dem SZ-Reisereporter in der US-Besatzungszone in Frankfurt am Main. Dort fielen ihm nicht nur feudale Ami-Schlitten auf, kecke Schwarzhändler und Menschenschlangen vor den „Lichtspielhäusern“, sondern auch die vielen „Amis“ mit einem „Liebchen im Arm“. Offenbar blühte das Geschäft „Liebe gegen Waren“, das heißt Zigaretten, Spirituosen, Schokolade. Ganz nach der Motto eines Halbwüchsigen: „Wenn meine Schwester mit dem Ami spielt, dann krieg ich eine Chesterfield!“

Geschäftemacher hatten Konjunktur, Diebe und Schwarzhändler, was ein SZ-Bericht („Die Polizei greift durch!“, 2. Dez. 1947) gehörig geißelte. In Bildstock hatte die Polizei bei einem Ehepaar eine riesige Menge geklauter Waren zutage gefördert. Diese sollten in Lebensmittel umgetauscht und dann auf dem Schwarzmarkt verscherbelt werden. Man fand 400 Oberhemden und Schlafanzüge, eine große Anzahl Damenkleider und Kittelschürzen, Stoffe und bereits eingetauschte Lebensmittel (Speck, Fett, Mehl und Eier). Die Ehefrau hatte die bewirtschafteten Waren in der Saarbrücker Wäschefabrik Arnold & Richard Becker gestohlen, wo sie Bandaufseherin war. Zum Abtransport des Diebesguts war ein Lkw vonnöten.

Anfang Dezember 1947 fahndete die Neunkircher Polizei nach den Besitzern zahlreicher Gegenstände, die „aus den im Jahr 1945 begangenen Plünderungen stammen“. Dabei handelte es sich um allerlei Küchengeräte (Teller, Tassen, Schüssel ...), um Wohnungszubehör (Federbetten, Zimmeröfen, Teppiche...) und Wertsachen (Uhren, Staubsauger, Nähmaschine, Schreibmaschine Radios...), alles mittlerweile heißbegehrte Mangelware.

Kurz vor Weihnachten werden die erwarteten Sonderrationen zum Fest, erhältlich gegen Lebensmittelkarten, bekannt gegeben: 250 Gramm Marmelade, 125 Gramm Bohnenkaffee, 100 Gramm Käse, zwei Eier und ein 25-Gramm-Stück Schwimmseife. Wenig Begeisterung, so erinnern sich Zeitzeugen, löste eine jedem Normalverbraucher (ab zehn Jahre) zustehende 454-Gramm-Konserve aus: Sie enthielt Pferdefleisch. Besser als nichts, werden sich viele gesagt – und auch die behördlich empfohlenen Steckrüben-Vorräte angelegt haben: Falls bei starkem Frost die Zufuhr von Kartoffeln stockt. Dank neuer Kontingente können sich die Verbraucher über nützliche Haushaltswaren aus Aluminium freuen.

Die mit der Frankenwährung einströmende Flut von Waren und Lebensmitteln habe die Menschen aus der Lethargie gerissen und viele in einen Taumel versetzt. So begeistert sich der SZ-Schreiber („Herz was begehrst du noch mehr?“, 18. Dez. 1947) beim Flanieren über die weihnachtlich gestimmte „gute, alte Bahnhofstraße“ in Saarbrücken, „unseren einzigen Boulevard“. Waren und Geschenkartikel „in Hülle und Fülle“, schwärmt er, für Alt und Jung. Auch Feinkost sei zu haben, Truthahn, Karpfen und Forelle.

 Für ein paar so dringend benötigte Kalorien verkaufte man alles, was im Haushalt nicht dringend benötigt wurde.

Für ein paar so dringend benötigte Kalorien verkaufte man alles, was im Haushalt nicht dringend benötigt wurde.

Foto: Bundesaarchiv Bild

Nur eines sei notwendig, fügt der schreibende Flaneur schnell hinzu, „Geld, viel liebes, gutes Geld“. Den Witwen und Pensionären bleibe nur die Hoffnung auf eine erfreuliche Zukunft. „Unseren Kleinen“ jedoch stehe „das schönste Weihnachtsfest seit endlos langer Zeit“, bevor, nicht nur wegen der „Teller mit Feigen, Schokolade, Gebäck und Obst“.

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