Kolumne Lippenstift am Bäckchen des Sauerbratens

Es gibt einen Punkt im zwischenmenschlichen Miteinander, der bislang als Tabu galt: der Wahnsinn mit dem Begrüßungsritualen (und wie man sich dagegen wehrt).

Kolumne: Lippenstift am Bäckchen des Sauerbratens
Foto: SZ/Robby Lorenz

Ei Hallo, unn, wie dann?“ „Gudd, unn selbschd?“ „Jo, so weit.“ „Jo, ’s muss halt, gell?“ „Jo, jo. Ei gudd, alleh dann“. „Jo, ahlla.“ Das ganze versehen mit einem Handschlag zur Begrüßung und schon ist zwischen zwei Menschen, die sich Ewigkeiten nicht mehr gesehen haben, alles gesagt. Ja, das Leben kann so einfach sein. Oder besser: könnte. Denn der gute, alte Handschlag, ein wirklich sehr viele Jahre praktiziertes und durchaus bewährtes Begrüßungsritual, hat Konkurrenz bekommen. Zunächst nur vom Küsschen-links-Küsschen-rechts. Dagegen ist ja im Prinzip auch nichts einzuwenden. In Frankreich hängen sie soger noch einen dritten Kuss dran. Oder gar zwei. Da geht man in Sachen Begrüßung eben auf Nummer sicher. Durchaus praktisch wäre allerdings eine exakte Vorgabe, ab wann man jemanden mit der Intimität zweier kuschelnden Wangen begrüßen darf. Scheint es beispielsweise im Friseursalon bereits nach dem ersten Besuch üblich zu sein, in der Folge gebusserlt zu werden , kommt in einer Metzgerei auch nach dem 100. gekauften Sauerbraten niemand auf die Idee, zur Begrüßung Küsschen zu verteilen.

Aber es musste ja alles noch komplizierter werden. Denn nachdem sich das Bäckchen-Petting längst etabliert hat, ist plötzlich die schlichte Umarmung nebst sanftem Drücker angesagt. Ohne Kuss also. Was die Vermeidung von Keim-Übertragung und den ungewollten Austausch von Mund-/Ohrgeruch angeht, sicher nicht die schlechteste Idee, aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Trifft nämlich ein Drücker auf einen Küsser, hat das mitunter verheerende Folgen. Nämlich just in dem Moment, in dem sich der Küsser den Weg zur Wange sucht, dreht sich der Drücker zur Umarmung ab und sorgt damit quasi für eine ungewollte Abwehrhaltung, die den Küsser vor eine unlösbare Aufgabe stellt. Die Lippen schon gespitzt, ist dieser nun gezwungen, seinen Akt der Begrüßung zu vollenden, und zwar am Arm, auf der Schulter oder auf dem Hinterkopf des Drückers. Ein unschönes, peinliches, ja unwürdiges Szenario für beide Seiten. Die Folge: ein ungutes Gefühl bei Küsser und Drücker sowie Spuren von Speichel und/oder Lippenstift am Hinterkopf des letzteren. Wie aber diesen Begrüßungs-Fiasko entkommen?

Ein Freund von mir hat es geschafft. Schon seit Jahren praktiziert er das schlichteste aller Begrüßungsrituale: Er winkt. Das mag zunächst irritieren, aber ich kann versichern: Nach ein paar Jahren gewöhnt man sich dran. Und: Er hat nie Lippenstift  am Hinterkopf.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort