Festival erlesen Kartoffeln oder Koriander? Die Ambivalenz der Heimat

Neunkirchen · In Neunkirchen klang das Literaturfestival „Erlesen“ mit der bewegenden, autobiographisch inspirierten Migrations-Geschichte von Laura Cwiertnia aus.

 Autorin Laura Cwiertnia (rechts) und Moderatorin Sally-Charell Delin bei der Lesung bei Bücher König in Neunkirchen

Autorin Laura Cwiertnia (rechts) und Moderatorin Sally-Charell Delin bei der Lesung bei Bücher König in Neunkirchen

Foto: Anja Kernig

„Die turbulente Zeit geht zu Ende.“ Noch dieser eine Abend trennte Gastgeberin Anke Birk und ihr patentes „Bücher König“-Team in der Bahnhofstraße von der Normalität der post-„Erlesen“-Zeit. Zum Finale der saarländischen Literaturtage ließen es alle Beteiligten ein letztes Mal vielleicht nicht gerade so richtig krachen, dafür funkeln. Erwies sich doch die Wahl der Hamburger Journalistin Laura Cwiertnia und ihres Debüts „Auf der Straße heißen wir anders“ als echter Glücksgriff.

„Einen Roman schreiben? Kann ich nicht. Das ist bestimmt so was von schwer“, war die Journalistin, Jahrgang 1987, früher überzeugt. Bis sie mit ihrem armenischen Vater, der seine Kindheit in Istanbul verbrachte und später eine Deutsche heirate, 2016 auf Identitätssuche nach Armenien reiste. Ihre Erlebnisse brachte sie für die „Zeit“ zu Papier. „Zeigst du mir die Heimat, in der du noch nie warst, von der du aber ständig träumst, Papa?“ überschrieb sie ihre Reportage. „Ein echter Romanstoff“, fiel einer Lektorin des Klett Cotta-Verlags auf. So kam eines zum anderen. Und jetzt, nach vier Jahren Buchschreiben, fehle ihr oft genau das.

Laura Cwiertnia wuchs in Bremen auf. Besser gesagt im Migrations-Brennpunkt Bremen-Nord. Bis zur Innenstadt sind es 30 Kilometer, „da fühlt man sich ganz weit weg“ – nicht nur räumlich, antwortete sie Moderatorin Sally-Charell Delin, die für SR2 Kultur moderierte. Aus Bremen-Nord stammt auch ihr Alter Ego Karla: „Eigentlich Karlotta, das fand der Vater so toll, zwei deutsche Vornamen in einem: Karl und Otto“. Was für einen der wunderbar heiteren Momente im Publikum sorgte – genau wie die Glorifizierung der Kartoffel aus Sicht des zugezogenen Avi: „entspannt und verlässlich, ein tolles Gemüse“. Quasi das Gegenteil von Koriander. Das Gewürz kann er nicht ausstehen, muss aber zu seiner großen Bestürzung feststellen, dass es zwingend zur armenischen Küche gehört. Es sind diese kleinen Details, die unmittelbar, weil so individuell und oft sinnlich, vermitteln, wie umfassend dieses Gebilde „Heimat“ ist, wie schicksalhaft und fragil. „In meinem Buch geht es viel ums Essen, um Geschmack, Gerüche.“

Den Einstieg in die Geschichte bildet die Beerdigung der Großmutter Maryam, von der es heißt, sie sei zu schwer für das Leben „und nun auch für den Tod“. Diese unangestrengte, fast poetische Sprache, leichtfüßig, trotz mancher inhaltlicher Schwere, zieht die Zuhörer ohne Federlesens ins Geschehen. Obwohl Religion für die bereits früh aus der Türkei zum Arbeiten nach Deutschland gekommene Frau nie eine große Rolle gespielt hat, wünscht sich Maryam eine traditionelle armenische Trauerfeier – für Enkelin Karla der Auslöser, sich selbst und die eigene Zugehörigkeit zu hinterfragen. „Letztlich ist es ein Buch über Frauen-Schicksale.“ Überrascht habe es sie, wie viele Gastarbeiterinnen damals nach dem 1961 unterzeichneten Anwerbeabkommen hierher kamen, allein, oft ihre Kinder zurücklassend: ein Drittel der knapp 900 000 Gastarbeitenden.

Die vom geleugneten Genozid überschattete Familiengeschichte erschließt sich in Rückblenden und aus wechselnden Perspektiven. „Mir war wichtig, rückwärts zu erzählen“, betont die Autorin, „warum jemand so geworden ist, wie er ist. Erst stolpert man über jemanden“, seine Eigenheiten, sein vielleicht seltsames Verhalten, „später versteht man es dann, etwa, warum die Oma so viel essen wollte“. Was habe es nun eigentlich mit diesem Buchtitel auf sich, kommt am Schluss die Frage aus dem Publikum. Nun, „armenisch“ sei in der Türkei ein Schimpfwort gewesen, Diskriminierung an der Tagesordnung. Weshalb man seinem Vornamen an der Türschwelle einen schützenden Tarnmantel umhängte, phonetisch unauffällig: Aus Avi wurde Ali, Maryam nannte sich Meryem.

Wie präsent und wichtig das Thema nach wie vor ist, zeigt der Blick nach Köln. Dort wurde gerade wieder ein am 24. April 2018 erstmals aufgestelltes Denkmal für die Ermordung von Armeniern, Aramäern, Assyrern und Griechen durch Soldaten des Osmanischen Reiches in den Jahren 1915 bis 2018 demontiert. Zum vierten Mal!

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort