Fahrradbranche boomt „Das Rad ist das neue Klopapier“

Kreis Neunkirchen · Der Run auf Räder ist in der Corona-Krise so gigantisch, dass sich die Lager der Händler im Kreis Neunkirchen rasch leeren.

 Die Fahrt auf dem Rad ist in der Corona-Krise für viele Menschen eine Art Ersatz für den Urlaub geworden, sagen Neunkircher Händler.

Die Fahrt auf dem Rad ist in der Corona-Krise für viele Menschen eine Art Ersatz für den Urlaub geworden, sagen Neunkircher Händler.

Foto: dpa/Fabian Sommer

„Das Rad ist das neue Klopapier.“ Wer diesen Satz eines Trierer Fahrradhändlers im ersten Moment als Übertreibung abtun mag, der irrt. Denn tatsächlich finden Fahrräder – ob klassisches Mountainbike oder motorisiertes E-Bike – derzeit reißenden Absatz. So auch im Landkreis Neunkirchen.

„Wir sind seit 26 Jahren hier – aber so einen Boom habe ich noch nie erlebt“, sagt Martin Schweitzer, Inhaber von Fahrrad Schweitzer in Neunkirchen. Marco Pfeiffer von Intersport Stiwi in Illingen bestätigt den Eindruck. „Ich bin erst seit vier Jahren Geschäftsführer, aber mein Vorgänger wohnt direkt in der Straße gegenüber und kommt noch oft vorbei. Er hat mir gesagt, so etwas habe er in 40 Jahren nicht gesehen.“ Ähnlich äußert man sich beim Radhaus Simon in Wiebelskirchen. „Als die Mountainbikes ganz neu auf den Markt kamen, war der Andrang vielleicht genauso groß“, heißt es dort. Doch nach kurzer Bedenkzeit folgt die Korrektur: „Nein, ganz so extrem wie heute war es nicht.“

Der Auslöser für den Boom der Branche liegt dabei auf der Hand: „Man muss sich ja fast dafür schämen, das zu sagen – aber ja, Corona hat der Fahrradbranche definitiv geholfen“, sagt Pfeiffer. „Die Leute konnten nicht in den Urlaub, wollen aber raus in die Natur, also steigen sie aufs Rad“, erklärt er. Es würden aber nicht nur neue Räder gekauft. „Viele kommen auch zu uns und bringen ihr Rad vorbei, das vorher zehn Jahre lang im Keller gestanden hat, damit wir es wieder flott machen“, berichtet er.

„Lange Zeit konnte man im Freien ja gar nichts anderes machen als Spazierengehen und eben Radfahren. Und gerade wer im Home Office arbeitet. braucht einen Ausgleich“, sagt Schweitzer.

„Die Menschen haben mehr Zeit. Zum Beispiel weil sie sich in Kurzarbeit befinden. Die entdecken das Rad gewissermaßen neu“, heißt es aus dem Radhaus Simon.

Es gibt aber auch andere Erklärungsansätze: Sara Tsudome, Geschäftsführerin des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs, sagt, dass die Angst vor Infektionen Menschen vor der Fahrt mit Bus oder Bahn zurückschrecken lasse. Deshalb werde das Rad nicht mehr nur als Gefährt zum Sport und Freizeitspaß betrachtet – sondern habe sich zum Verkehrsmittel der Wahl gemausert.

Die Beliebtheit der Drahtesel bringt die Händler in gewisser Hinsicht aber auch in die Bredouille. „Die Nachfrage ist so groß, da konnte sich kein Hersteller drauf einstellen. Gott sei Dank kommen meine Lieferanten aus Deutschland und ich habe nochmal eine große Marge nachbestellen können. Aber im Juli könnte es knapp werden“, sagt Schweitzer. Da im Spätsommer immer bereits die Produktion der Modelle für das kommende Jahr anlaufe, setzt er seine Hoffnung auch darauf, dass dann bereits die Räder für 2021 verfügbar sein werden. Bestellt habe er diese bereits. Die Problematik betreffe auch den Bestand der Ersatzteile. Gerade jene, die aus dem Ausland angeliefert würden. „Wir haben ein großes Lager angelegt und nachgeordert. Trotzdem leert es sich. Statt zwei, drei Tagen, dauert eine Lieferung heute zwei, drei Wochen“, sagt Schweitzer. Dass sich die Lage noch in diesem Jahr entspannen wird, glaubt er nicht. „Dafür ist die Nachfrage viel zu groß und die Bestände zu leer.“

„Es gibt tatsächlich Modelle, bei denen ich den Kunden sagen muss: Das Rad, das Sie wollen, haben wir nicht mehr – und es wird auf absehbare Zeit auch nicht mehr geliefert“, bestätigt Pfeiffer. Grundsätzlich sei der Ansturm der Kunden aber nicht auf einen bestimmten Typ Fahrrad beschränkt. „E-Bikes und Kinder-Räder laufen besonders gut, die klassischen Rennräder etwas schwächer. Es gibt aber kein Rad, das im Moment nicht stärker nachgefragt wird als vor Corona“, sagt Pfeifer. Er weiß: „Die Hersteller haben richtig Druck und kommen mit der Produktion nicht nach – weil praktisch jeder Händler neue Räder braucht.“

Auch das Radhaus Simon bekommt den mangelnden Nachschub zu spüren. Insbesondere Spezialräder, zum Beispiel für schwergewichtige Personen, seien nur noch bedingt oder gar nicht mehr lieferbar.

Dass der Run auf die Räder auch in den kommenden Jahren anhält, sei aber unwahrscheinlich. „Wir haben schon vor Corona festgestellt, dass Radfahren beliebter wird. Und wir hoffen, dass der Trend anhält. Aber so eine Ausnahmesituation wird es nicht noch einmal geben“, ist sich Pfeiffer sicher. „Wir sind froh über den Hype. Aber der wird wie in jedem anderen Bereich abflachen. Der Markt ist ja irgendwann auch gesättigt“, heißt es aus dem Radhaus Simon. Dem stimmt Martin Schweitzer zu. „Man muss realistisch sein und die Situation in den gesamtwirtschaftlichen Kontext einordnen. Wir gehen davon aus, dass 2021 wieder ein ‚normales Jahr’ wird“, sagt er. Schweitzer glaubt trotzdem, dass die Branche noch länger von dem aktuellen Ansturm profitieren kann. „Vor allem im Servicebereich. Die Räder, die jetzt verkauft werden, müssen gewartet und irgendwann repariert werden. Da kommt dann unser Werkstattservice ins Spiel“, sagt er.

Dass derzeit so viele Drahtesel über die Ladentische wandern, freut die Händler nicht nur wegen des gesteigerten Umsatzes. „Radfahren ist einfach ein supertoller Sport“, meint Pfeiffer. „Und je mehr Menschen ihn betreiben – desto besser“, heißt es aus dem Radhaus Simon. Und Martin Schweitzer hofft: „Vielleicht ist ja der eine oder andere in Corona-Zeiten auf seinem Rad den eigenen vier Wänden entkommen und hat bei einer Fahrt durch die Natur gesehen, dass es noch andere wichtige Dinge im Leben gibt.“

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