Mittelpunkt des jüdischen Lebens

Der Pfarrer wohnt im Schatten des Kirchturms; das Pfarrhaus steht in der Nähe der Kirche. Oft gehört ein drittes Gebäude dazu mit Funktionsräumen für die Bedürfnisse einer Gemeinde: Gruppenräume, ein Festsaal, ein Probenraum für den Chor, die Pfarrbücherei. So ist es uns geläufig in den katholischen und evangelischen Kirchengemeinden.In den jüdischen Gemeinden war es ganz ähnlich

Der Pfarrer wohnt im Schatten des Kirchturms; das Pfarrhaus steht in der Nähe der Kirche. Oft gehört ein drittes Gebäude dazu mit Funktionsräumen für die Bedürfnisse einer Gemeinde: Gruppenräume, ein Festsaal, ein Probenraum für den Chor, die Pfarrbücherei. So ist es uns geläufig in den katholischen und evangelischen Kirchengemeinden.In den jüdischen Gemeinden war es ganz ähnlich. Man brauchte ein Haus für den Kult und eine Wohnung für die Person, die den Gottesdienst ausübte; eine Synagoge und ein Haus für den Rabbiner. Durch den Kauf der Grundstücke und die Errichtung der Gebäude entstanden der Gemeinde Kosten. Waren ihre finanziellen Mittel beschränkt, musste man sich mit einer bescheidenen Lösung zufrieden geben. So war es in Merzig.

Wenige Jahre vor der Französischen Revolution errichtete die jüdische Gemeinde in der heutigen Querstraße ein zweistöckiges Gebäude mit einem Betsaal, einem Schulraum und einer Lehrerwohnung, alles unter einem Dach. In den folgenden Jahren nahm die Zahl der jüdischen Einwohner in Merzig, Brotdorf und Hilbringen zu; auch die Vermögensverhältnisse besserten sich. So konnte man gegen 1840 an den Bau einer Synagoge denken. Sie entstand an der Ecke, wo die Synagogenstraße - damals Rehstraße - in die Neustraße einmündet. 1842 wurde sie eingeweiht.

Das Gebäude enthielt jedoch keine weiteren Räume wie Schulsaal oder Wohnung. Dafür wurde in der Rehstraße 10, aber auch innerhalb der Mauerumfriedung der Synagoge, ein eigenes Haus errichtet, welches nur durch einen kleinen Hof mit Bäumen von der Synagoge getrennt war. An der Stelle ist heute ein Kinderspielplatz. Vom Schulhaus sind derzeit keine eigenen Aufnahmen auffindbar, nur das nachstehende Foto gibt einen ungefähren Eindruck.

In diesem Haus wohnte der jeweilige Kultusbeamte mit seiner Familie, solange er als Kantor, Religionslehrer und Schächter im Dienst der Gemeinde stand.

Eine private jüdische Elementarschule war schon 1832 in Merzig gegründet worden. 1876 wurde sie aufgehoben, von da an besuchten die jüdischen Kinder die katholische städtische Schule.

Die letzten Bewohner des Gemeindehauses: Levy Nussbaum, der bis 1896 in Merzig wirkte. Ihm folgte Isaak Tannenberg. Er blieb 30 Jahre lang bis 1926 in Merzig. Sein Nachfolger wurde Siegmund Friedemann, der 1930 nach Saarbrücken wechselte. Nach ihm war Max Jankelowitz als Lehrer und Kantor tätig. Er erteilte im Schuljahr 1932 noch 17 Kindern Religionsunterricht.

Ihn ersetzte im Spätherbst 1932 Sigfrid Levy aus Hersfeld. Wie lange er in der jüdischen Gemeinde in Merzig noch seinen Dienst als Kulturbeamter ausüben konnte, ist nicht bekannt.

In ihren Erinnerungen beschreibt Herta Friedemann geb. Kahn, Siegmunds Frau, die Aufteilung und Einrichtung des Hauses: "Nach unserer Eheschließung bekamen wir eine Wohnung im jüdischen Gemeindehaus in Merzig. Es lag der Synagoge gegenüber. Im Erdgeschoss gab es zwei durch eine Türe verbundene kleine Räume und die Küche. Der erste diente als Büro. Darin standen zwei Bücherschränke mit Glastüren, ein kleiner runder Tisch, ein Schreibtisch und vier Stühle, die Siegmund von einem Schreiner hatte machen lassen. Später kam noch ein Harmonium dazu. Die schöne eichene Esszimmereinrichtung im zweiten Raum sowie die Küche und das Schlafzimmer im ersten Stock gehörten zu meiner Mitgift.

Dem Eingang gegenüber war ein Mikwe (rituelles Tauchbad) und ein Abstellraum und darunter ein Becken, worin das Regenwasser für den Mikwe gesammelt wurde. Im ersten Stock war ein Schulraum, in dem im Winter auch die Gottesdienste stattfanden, wenn ein Gläubiger einen Gedenktag hatte. In dieser Wohnung kam am 10. September 1929 unser Sohn Charles zur Welt.

Siegmund hatte viel Arbeit: zwölf bis vierzehn Schulstunden wöchentlich (je zwei im Mädchengymnasium, im Jungengymnasium, in der Volksschule und für die jüdischen Lehrlinge in der Stadt), sonntags vier und mittwochs nachmittags zwei Talmud-Tora-Stunden im Schulsaal bei uns im Haus. Die Stunden in den Schulen wurden wie der katholische und der evangelische Religionsunterricht von der Stadt bezahlt. Das Einüben der Lieder und Texte verschlang viel Zeit.

Die Gemeinde Merzig war da besonders anspruchsvoll. Jedes Fest, jede liturgische Zeit hatte ihre eigenen Gesänge, und es durfte nicht das Geringste verwechselt werden. Da es keine jüdische Metzgerei in Merzig und Umgebung gab, übernahm Friedemann auch das rituelle Schlachten in sieben oder acht nicht koscheren Metzgereien.

Von besonderem Interesse dürfte sein, dass es beim jüdischen Gemeindehaus in Merzig ein Mikwe gab, das zu benutzen die jüdische Religion Frauen und Männern in gewissen Fällen vorschreibt. So ein rituelles Tauchbad hatte damals nicht jede Gemeinde, nicht einmal die Saarbrücker, wohin Siegmund sich 1930 versetzen ließ.

In ihrem Lebensrückblick berichtet Herta Friedemann, dass sie nach der Geburt ihres zweiten Kindes, Herbert, mit der Bahn nach Merzig fuhr, um sich dieser Vorschrift zu unterziehen. Sie verlangt, dass man in fließendes Wasser eintaucht, das zum Beispiel von einem Bach herrührt. Das war nicht überall leicht einzurichten. In Merzig behalf man sich, indem man Regenwasser in einer Art Zisterne sammelte, das man bei Bedarf abfließen lassen konnte.

Beim Novemberpogrom im Jahre 1938 wurde die Merziger Synagoge in Brand gesteckt; das Gemeindehaus wurde 1944 von einer Bombe getroffen und zerstört.

Schlimmer als die Zerstörung der Gebäude ist das, was in den zehn Jahren von 1935 bis 1945 den Menschen jüdischen Glaubens angetan wurde; aber das ist nicht mehr Gegenstand dieser Darlegungen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort