Mit Herz und Brot gegen Armut Nahrungsmittel-Hilfe der EU nach deutscher Klage gekürzt

Freyming-Merlebach. "Schwarze Ideen" (negative Gedanken) kommen Philippe L'Hopital in letzter Zeit öfter. Vor vier Jahren wurde der heute 60-Jährige arbeitslos, seit einem Jahr ist er auf die französische Sozialhilfe angewiesen. Von rund 450 Euro im Monat muss er leben - weil das nicht reicht, geht er zu den "Restos du coeur" (Restaurants der Herzen)

Freyming-Merlebach. "Schwarze Ideen" (negative Gedanken) kommen Philippe L'Hopital in letzter Zeit öfter. Vor vier Jahren wurde der heute 60-Jährige arbeitslos, seit einem Jahr ist er auf die französische Sozialhilfe angewiesen. Von rund 450 Euro im Monat muss er leben - weil das nicht reicht, geht er zu den "Restos du coeur" (Restaurants der Herzen). Einmal in der Woche können Bedürftige dort Lebensmittel abholen. Anders als bei der deutschen Tafel ist das Angebot kostenlos. Die Bedürftigen müssen ihre finanzielle Situation offenlegen und bekommen eine festgelegte Essensration pro Woche. 17 Wochen lang - bis der Winter vorbei ist, in dem die Nebenkosten besonders hoch sind.Auf drei Tischen stapeln sich Konservenbüchsen - Ravioli, verschiedene Sorten Gemüse, Fleisch, Fisch - aneinander, gefolgt von Milchpackungen, Joghurts, Müsliriegeln und Baguettes. "Ohne die Restos würde ich nicht satt werden", sagt L'Hopital, während er Konserven in eine Plastiktüte steckt. Daneben steht eine Mitarbeiterin und trägt die Lebensmittel in eine Karte ein - kleine Büchsen zählen einen, große zwei Punkte. 32 Punkte in vier Kategorien (Milch, Protein, Gemüse, Dessert) sollen sechs ausgewogene Mahlzeiten in der Woche garantieren.

Mit Gelegenheitsjobs versucht der ehemalige Wartungstechniker sich über Wasser zu halten. "Früher war ich der Ernährer der Familie und hatte keine großen Sorgen. Heute bin ich auf die Hilfe meiner Kinder angewiesen. Man schämt sich so, das Leben widert einen an", sagt L'Hopital mit stockender Stimme, Tränen in den Augen. In seinem Alter würde ihn niemand mehr einstellen. Hin und wieder arbeitet er ehrenamtlich für die Restos, die ihn "sehr freundlich aufgenommen" haben. Das lenkt ab, denn "meine Misere ist noch nicht mal die schlimmste, anderen geht es noch dreckiger". Die Helfer bei den Restos machen ihm Mut, nicht aufzugeben.

Wie schwierig das ist, weiß Jacqueline Schutz, die das Resto leitet und seit 1995 dabei ist. "Früher war es anders, es kamen eher Obdachlose, manche waren fast ein wenig philosophisch drauf. Heute sieht man echtes Elend. Es kann jeden treffen und oft kommt man nicht raus, egal wie sehr man kämpft", sagt Schutz. Sie erinnert sich an eine Frau, die vor dem Tisch zusammenbrach, weil sie tagelang nichts gegessen hatte. "Sie hat alles ihren Kindern gegeben und sich nur von Baguette und Wasser ernährt - bis sie umgekippt ist."

Was sie und die Helfer jedoch motiviert, sind Fakten. Nur drei Prozent der Bedürftigen kommen im zweiten Jahr wieder, die meisten schaffen den Weg aus der Armut. Denn die Restos du coeur geben nicht nur Essen aus, sondern beraten auch bei bürokratischen Problemen und helfen bei der Jobsuche. Denn meist ist Arbeitslosigkeit der Grund für die Misere. In diesem Jahr sei es besonders schlimm. Rund 450 Menschen kommen jede Woche. Schon jetzt seien das acht Prozent mehr als im Vorjahr. Da sich noch immer Menschen anmelden, geht Schutz von einem Anstieg von 15 Prozent aus. Grund seien Kündigungen durch die aktuelle Krise, die mit der von 2008 zusammenfalle. Denn bei vielen, die damals gekündigt wurden, läuft das Arbeitslosengeld jetzt aus - wie bei L'Hopital, der jetzt auf die Rente hofft. Freyming-Merlebach. Auf Deutschland sind die Restos du coeur zur Zeit nicht gut zu sprechen. Denn ausgerechnet die Bundesrepublik hat gegen das europäische Nahrungsmittelhilfe-Programm vor dem europäischen Gerichtshof geklagt und im April Recht bekommen. Daraufhin wurde das Programm um 80 Prozent auf 113 Millionen Euro gekürzt - ob es nach 2013 fortgeführt wird, ist offen. Ursprünglich diente das Programm dazu, Nahrungsmittel aus Agrar-Überschüssen an Bedürftige zu geben. Diese Nahrungsmittel mussten jedoch zunehmend eingekauft werden - Deutschland klagte, weil die Hilfe aus dem Agrarhaushalt bezahlt wird. Sozialpolitik sei jedoch eine nationale Aufgabe. Hinzu kommt, dass Deutschland nicht vom Programm profitiert - anders als Frankreich. Ein Viertel der Lebensmittel der Restos kommt aus der EU. Schon jetzt sei der Vorrat um 20 Prozent zurückgegangen, sagt Schutz. Würde die Hilfe ganz wegfallen, steuere man auf eine alimentäre Katastrophe zu. "Wir werden weiter dafür kämpfen", sagt Schutz. Die Europäische Kommission macht sich für eine Fortsetzung des Programms stark und strebt laut einer Mitteilung vom September eine Einbindung in die Wirtschafts- und Sozialpolitik ein. mwi

Auf einen Blick

Im Département Moselle gibt es rund 30 Restos du Coeur, in denen fast 900 ehrenamtliche Helfer arbeiten. Im vorigen Winter wurden 13 463 Personen betreut und 1,8 Millionen Essen ausgegeben. In ganz Frankreich haben die Restos du coeur 860 000 Bedürftige erreicht. Mit einer Spendensumme von 74 Millionen Euro ist die 1985 vom Komiker Coluche gegründete Hilfsorganisation eine der wichtigsten Frankreichs. mwi

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