"Missbrauch ist kein Schmuddelthema mehr"
Die neue Anlaufstelle haben bereits 1700 Menschen telefonisch und etwa 800 per Brief kontaktiert. Wer meldet sich bei Ihnen?Fegert: Auffällig viele Anrufer sind bereits im Rentenalter und berichten über Ereignisse, die über 20 Jahre zurück liegen. Etwa 60 Prozent von ihnen haben sich noch nie zuvor getraut, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Das hat mich sehr angerührt
Die neue Anlaufstelle haben bereits 1700 Menschen telefonisch und etwa 800 per Brief kontaktiert. Wer meldet sich bei Ihnen?
Fegert: Auffällig viele Anrufer sind bereits im Rentenalter und berichten über Ereignisse, die über 20 Jahre zurück liegen. Etwa 60 Prozent von ihnen haben sich noch nie zuvor getraut, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Das hat mich sehr angerührt. Heute ist es für Kinder leichter, jemanden zu finden, dem sie sich anvertrauen können.
Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Projekt?
Fegert: Das System orientiert sich an einem klassischen Beschwerde-Management. Die Betroffenen melden sich und erzählen ihre Geschichte. Das Ganze wird von uns als Begleitforschern anonym ausgewertet und die Ergebnisse der Politik präsentiert. Abgeschaut haben wir uns dieses Vorgehen bei der Flugsicherheit, wo man Piloten anonyme Meldemöglichkeiten eingerichtet hat, damit sie sich nicht selbst beschuldigen müssen, trotzdem jeder Fehler bemerkt werden kann.
Es melden sich also auch Täter?
Fegert: Ja. Und Täter, die als Kind selbst Betroffene waren. Und es rufen Kontaktpersonen von Tätern und betroffenen Kindern an.
Welche aus den Anrufen abgeleiteten Empfehlungen haben sie bereits an die Politik weitergegeben?
Fegert: Es gibt einige zentrale Themen, die immer wieder auftauchen: Die meisten Betroffenen wünschen sich eine Verbesserung von Therapie- und Beratungsmöglichkeiten. Vor allem die älteren Anrufer treibt die Frage der Verjährung um. Und nicht zuletzt geht es oft um das Thema Entschädigung.
Hatte der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche eine katalysatorische Wirkung?
Fegert: Absolut. Ich beschäftige mich seit 25 Jahren mit sexuellem Missbrauch. Bislang wurde das immer als ein "Schmuddelthema" behandelt. Erst jetzt beginnt die Politik zu verstehen, was das Thema für die Gesellschaft bedeutet. Nun strebt man auf der rechtlichen wie auf der Strukturebene, auf Seite des Beschwerdemanagements und im Bereich der Therapie Veränderungen an. Das Bundesforschungsministerium hat alleine in diesem Sommer 20 Millionen Euro für Grundlagenforschung ausgeschrieben. In den USA haben der 11. September und Hurricane Kathrina gezeigt, welch große öffentliche Bedeutung Traumatisierung hat. Bei uns und in Irland haben es die Missbrauchsskandale verdeutlicht.
Das Interview entstand auf einer von den Saarland-Heilstätten (SHG) und dem Landesverband der Arbeiterwohlfahrt (Awo) organisierten Tagung zum Thema "Interdisziplinäre Vernetzung als gesellschaftlicher Auftrag an Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe" in Völklingen.
Die kostenlose Anlaufstelle der Bundesregierung ist erreichbar unter Tel. (0800) 22 55 530. Infos im Internet: www.beauftragte-missbrauch.de/