Nunkirchen Vom „Hitlerweck“ bis zum „Eintopfsonntag“

Nunkirchen · Im voll besetzten Pfarrsaal in Nunkirchen stellte Waderns Bürgermeister Jochen Kuttler sein Buch „Ein Dorf im Dritten Reich“ vor.

 Jochen Kuttler präsentierte sein Buch „Ein Dorf im Dritten Reich“. Die Chronik der Nunkircher Volksschule gab er der aktuellen Schulleiterin Birgit Schmidt zurück.

Jochen Kuttler präsentierte sein Buch „Ein Dorf im Dritten Reich“. Die Chronik der Nunkircher Volksschule gab er der aktuellen Schulleiterin Birgit Schmidt zurück.

Foto: Ute Keil

Viele ältere Menschen erzählen gerne von früher, aber wenn es um die Zeit zwischen 1933 und 45 geht, werden die meisten von ihnen schweigsam. Jochen Kuttler, seit 2014 Bürgermeister der Stadt Wadern, wurde 1970 in Nunkirchen geboren. Immer schon an Geschichte interessiert, wollte er nun wissen, wie die Menschen in seinem Heimatort damals diese dunklen Jahre erlebt und überlebt haben, was aus ihnen geworden ist und ob ihre Erinnerungen realistisch sind und einer sachlichen Überprüfung standhalten. Daraus ist nun ein Buch geworden, das der Verwaltungschef im Saalbau seines Heimatortes vorstellte.

Zur Freude Kuttlers war der Pfarrsaal anlässlich seiner Präsentation voll besetzt, und unter den Besuchern waren nicht nur ein paar ältere Semester aus Nunkirchen, sondern auch viele junge Leute aus dem gesamten Stadtgebiet. Mitglieder des Kreisheimatvereins mit ihrem Vorsitzenden Hubert Schommer waren ebenso gekommen wie Kuttlers Amtsvorgänger Berthold Müller und Fredi Dewald.

Zu Beginn seiner Ausführungen meinte Kuttler bescheiden, er habe eigentlich gar kein Buch geschrieben, sondern „nur“ einen bereits bestehenden Text kommentiert. Aber wie man im Laufe des Abends erfahren konnte, war das Wörtchen „nur“ in mehrfacher Hinsicht fehl am Platze. Zunächst galt es die Quelle, nämlich die von Oberlehrer Matthias Müller detailreich geführte Chronik der Nunkircher Volksschule in einen les- und verstehbaren Zustand zu überführen – denn sie war in der alten Sütterlin-Schrift niedergeschrieben. Der Autor suchte den Kontakt zu zwei Sütterlingruppen in Konstanz und Hamburg, deren Mitglieder ihm hilfreich zur Seite standen. So wurde die Chronik nach und nach entschlüsselt und offenbarte, dass Müller der Nazi-Ideologie damals nicht abgeneigt war.

Müller gründete die Nunkircher Hitlerjugend und kommentierte viele Aspekte zu Beginn dieser Zeit durchaus positiv. „Aber anstatt ihn heute dafür zu verurteilen, sollten wir uns vielleicht Gedanken darüber machen, wie eng und alternativlos oft auch intelligente Menschen in dieses System eingebunden waren“, brach Kuttler eine Lanze für unsere Vorfahren, die einem Mangel an realistischen Informationen ausgesetzt waren, den wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können.

Die Zuhörer kannten einige Details aus dem damaligen Dorfleben durch die Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. So gab es jeweils am 20. April einen „Hitlerweck“ und einmal im Monat einen „Eintopfsonntag“. Das durch Verzicht auf den obligatorischen Braten eingesparte Geld sollte einem guten Zweck zugeführt werden. Die Schulkinder züchteten Seidenraupen für die Herstellung von Fallschirmen und sammelten Kartoffelkäfer, die die „bösen Amerikaner“ angeblich über den deutschen Feldern abgeworfen hatten.

Matthias Müller hat sich in seiner Chronik nicht immer an die Wahrheit gehalten, dies zeigte die Buchpräsentation. Hier und da wurden Zahlen geschönt oder Wissenslücken aus der Fantasie gefüllt. Juden kamen bei ihm überhaupt nicht vor, denn in Nunkirchen gab es keine jüdische Gemeinde. Aber nach Kuttlers Recherchen gab es durchaus Nazi-Opfer: psychisch Kranke, die man verschwinden ließ, oder Menschen wie den Priester Nikolaus Demmer, der mehrfach eingesperrt und gefoltert wurde, weil er sich offen gegen das Hitlerregime und den Krieg geäußert hatte.

Weit über 150 Fußnoten lassen erahnen, wie viel Zeit und Mühe Jochen Kuttler in die Herausgabe dieses Buches gesteckt hat. Reisen und Telefonate – einige sogar mit dem britischen Verteidigungsministerium – befähigten ihn dazu, die Geschichten hinter der Geschichte hervor zu zaubern und die Vergangenheit für unsere Generation besser erfahrbar zu machen. Gewidmet hat Kuttler das Werk einer Frau namens Ilse Theobald. Sie betrieb im Newerweg ein kleines Lebensmittelgeschäft, und viele können sich heute noch gut an sie erinnern. Drei Brüder hat sie durch den Krieg verloren und ihr Schicksal steht stellvertretend für das unendliche Leid, das der Krieg über viele Familien gebracht hat. Zum Schluss gab der Buchautor und Herausgeber die Chronik, die er so lange erforscht hatte, an die dazu gehörige Schule zurück. Schulleiterin Birgit Schmidt nahm sie entgegen und wird sie, wie sie bekundete, im Archiv wieder an ihren alten Platz stellen.

Interessierte können das Buch „Ein Dorf im Dritten Reich“ vom Waderner Bürgermeister Jochen Kuttler in der Waderner Bücherhütte, in der Buchhandlung Rote Zora in Losheim, im Haco Einkaufszentrum und in der Postagentur Nunkirchen kaufen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort