Nunkirchen Als ob man mittendrin sitzen würde

Jochen Kuttler, im Hauptjob Bürgermeister, jetzt auch als Autor: In einem Buch beschreibt er die Nazizeit in Nunkirchen.

 Eine Aufnahme mit Seltenheitswert. Am 10. Mai 1940 marschierten Truppen der Wehrmacht in Belgien, Luxemburg und Frankreich ein. Das Foto zeigt den Abmarsch von Einheiten in Richtung Belgien. Es wurde damals auf dem Marktplatz in Nunkirchen aufgenommen.

Eine Aufnahme mit Seltenheitswert. Am 10. Mai 1940 marschierten Truppen der Wehrmacht in Belgien, Luxemburg und Frankreich ein. Das Foto zeigt den Abmarsch von Einheiten in Richtung Belgien. Es wurde damals auf dem Marktplatz in Nunkirchen aufgenommen.

Foto: Archiv Jochen Kuttler

Schulchroniken sind für Historiker wie ein Fenster in die Vergangenheit. Jochen Kuttler, im Hauptjob Bürgermeister der Stadt Wadern, hat die Zeitreise gewagt und sich den Tagebuchschilderungen von Matthias Müller angenommen. Der damalige Leiter der Volksschule Nunkirchen beschreibt in der von ihm geführten Schulchronik detailliert die Nazizeit in seinem Dorf. Mit Faktencheck und Einordnungen versehen, hat Jochen Kuttler diesen Teil der Schulchronik nun zu einem Buch gemacht. Die SZ hat mit dem Autor gesprochen.

Ein Bürgermeister als Autor. Ihre Freizeit scheint nicht knapp bemessen zu sein…

JOCHEN KUTTLER (lacht). Na ja, wenn Sie nachts zwischen ein und drei Uhr als Freizeit durchgehen lassen. Sagen wir so: Ich habe mir die Freiheit genommen. Und Schlaf eingebüßt.

Sie beleuchten in Ihrem Buch die Zeit zwischen 1933 und 1948 in Ihrem Heimatort Nunkirchen. Eine Zeit, über die lange Jahre lieber der Mantel des Schweigens gelegt wurde. Warum gerade jetzt dieses Buch?

KUTTLER Weil die Geschichte erzählt werden will. Ich habe 1992 für das damalige Heimatbuch, für das Fritz Glutting verantwortlich zeichnete, über die Zeit des Nationalsozialismus in Nunkirchen recherchiert. Damals war allerdings weder der nötige Platz in dem Buch vorhanden, noch gab es in der Bevölkerung ein gesteigertes Interesse an der Aufarbeitung einer durchaus schwierigen Epoche. So habe ich es zumindest seinerzeit empfunden.

Eigentlich haben Sie ja gar kein Buch geschrieben, sondern einfach nur abgeschrieben…

KUTTLER Stimmt! Ich habe mir die Schulchronik des Dorfes, die man sich wie eine Art Tagebuch vorstellen kann, genommen und die Einträge, die in Sütterlin-Handschrift verfasst wurden, übertragen in unsere heutige Schrift, unsere Rechtschreibung etc. Die eigentliche Arbeit begann aber erst danach: Das Einordnen des Geschriebenen in den historischen Kontext; die Frage, was aus den damaligen Protagonisten wurde. Vieles, was man da liest, hört sich lapidar an, ist es aber wirklich nicht.

Zum Beispiel…

KUTTLER Da ist zum Beispiel von einer Seidenraupenzucht in der Schule die Rede. Das hört sich ja zuerst einmal an, wie ein Projekt im Biologieunterricht. In Wahrheit wurden die Kokons der Raupen aber gesammelt und der Wehrmacht zur Produktion von Fallschirmen zur Verfügung gestellt. Es ging also letztlich nicht um Biologie, sondern viel mehr um Ideologie.

Wer hat denn die Einträge in der Schulchronik verfasst?

KUTTLER In der Nazizeit, also zwischen 1933 und 1945, Matthias Müller. Er war Hauptlehrer, also Schulleiter, und durfte sich nach dem Krieg sogar Direktor nennen. Ein, wie ich finde, hervorragender Schriftsteller mit einer sehr poetischen Sprache. Müllers Schilderungen lesen sich so, als ob man mit den handelnden Akteuren an einem Tisch sitzt. Matthias Müller war auch Autor des ersten Heimatbuchs von Nunkirchen, das 1957 erschien. Er war Initiator des Blumenfestes im Ort. Eine treibende Kraft und jemand, der sein Dorf über alles liebte.

Einer, der aber sehr wohl den Nazis zugetan war…

KUTTLER Das eine schließt das andere ja nicht aus. Es ist diese Ambivalenz, die spannend ist. Matthias Müllers Schilderungen haben einen unschätzbaren historischen Wert, weil sie völlig unverfälscht den Blick auf eine Zeit eröffnen, die wir meist nur aus der Perspektive von Menschen kennen, die sie im Rückblick schildern. Matthias Müller hingegen beschreibt das Hier und Jetzt, so wie er es sieht. Und er wird im Laufe seiner zuweilen tagtäglichen Schilderungen immer mehr zum Mitläufer eines Regimes, das genau auf solche Menschen wie ihn setzt. Die Begeisterung für die Nazis erfährt selbst dann keinen Dämpfer, als der Krieg in die Heimat kommt und die jungen Männer des Dorfes reihenweise den vermeintlichen Heldentod an der Front sterben.

Was macht den Reiz Ihres Buches jenseits der Kopie einer Schulchronik aus?

KUTTLER Matthias Müller beschreibt das Leben in Nunkirchen in der Nazizeit bis ins Detail. Man bekommt irgendwann ein Gefühl für den Autor, aber auch für die Menschen, die er in den Mittelpunkt rückt. Und das sind keineswegs nur das Lehrerkollegium oder die Schüler. Er schildert ein ganzes Dorfszenario, und das über 13 Jahre hinweg. Reizvoll war es für mich, sowohl einen Faktencheck zu machen als auch zu schauen, ob die Geschichtsschreibung heute die subjektiven Schilderungen des Hauptlehrers Müller bestätigt. Das ist ebenso spannend wie aufschlussreich.

War Matthias Müller Antisemit? Rassist?

KUTTLER Das ist schwer zu sagen. In der ganzen Chronik spricht er nie über Juden. Es gab seinerzeit auch keine in Nunkirchen. Matthias Müller äußert sich nie rassistisch. Sicher finden sich abfällige Bemerkungen über die Kriegsgegner, aber er widmet noch nicht einmal durchaus vorhandenen Gegnern des Naziregimes im Dorf eine Zeile.

Gab es denn Widerstand?

KUTTLER Ja, allerdings anders, als wir uns das heute vorstellen. Grundsätzlich war die Stimmung eher so, dass, wer nicht mit dem Naziregime konform war, lieber den Mund hielt. Es galt die Devise, Augen zu und durch, was ich eine durchaus interessante Parallele zur heutigen Zeit finde. Große Teile der Bevölkerung hegten damals Sympathien für die Nazis, so wie überall in Deutschland seinerzeit. Widerstand gab es vor allen Dingen in erzkatholischen Häusern. Die Nazi-Ideologie passte nicht zum Glauben, und daraus machten viele Katholiken in ihrem Alltag auch keinen Hehl. Wobei man sagen muss, dass nicht jeder Pfarrer, der in Nunkirchen in dieser Zeit seinen Dienst versah, das auch so sah. Die einen hielten sich zurück, die anderen waren wohl stillschweigend mit dem Regime einverstanden. Menschen, wie Nikolaus Demmer, einem Nunkircher, der später in Waldweiler Pfarrer wurde und den Nazis massiv Paroli bot und dafür jahrelang genauso massiv verfolgt wurde, waren ganz klar die seltene Ausnahme.

Es gab also gute Nunkircher und schlechte Nunkircher…

KUTTLER Ich finde diese Kategorien unangebracht. Ich maße mir ganz bewusst nicht an, im Rückblick den Stab über Matthias Müller oder sonst einen Protagonisten der Schulchronik zu brechen. Es ist vielmehr angebracht, die Menschen aus ihrem Lebenskontext heraus zu betrachten. Und die Frage, wo man selbst damals gestanden hätte, ist nicht einfach damit beantwortet, dass man ganz sicher Widerstand geleistet hätte. Das halte ich für zu einfach.

War Nunkirchen überall?

KUTTLER Genau das ist der Punkt. Nunkirchen war in der Tat fast überall. Was sich in dem damals doch recht kleinen Dorf zugetragen hat, fand so oder so ähnlich fast überall statt. Nur wurde es selten so detailliert und emotional beschrieben, wie das Matthias Müller in der Schulchronik tut.

Gab es besondere Momente im Laufe Ihrer Recherche?

KUTTLER Mehrere. Es gab unglaublich intensive Gespräche mit den wenigen noch vorhandenen Zeitzeugen, die übrigens sehr offen ihre Erlebnisse in der damaligen Zeit schilderten. Ich werde auch meine Telefonate mit dem britischen Verteidigungsministerium nicht vergessen. Ich wollte nämlich unbedingt herausfinden, warum die königliche Luftwaffe Hunderte von Brandbomben einfach so in einem Wald nahe des Dorfes versenkte. Am Spannendsten war es aber herauszufinden, wer in einem britischen Flugzeug saß, das gegen Ende des Krieges nördlich von Nunkirchen abstürzte. Ich habe nicht nur die Namen herausgefunden, sondern auch mit einem Nachfahren eines der Crewmitglieder persönlich am Telefon gesprochen. Der Mann war völlig überrascht, dass jemand dieses Kapitel aufarbeitet. Da kriegt man dann schon Gänsehaut. Keines der sieben neuseeländischen Crewmitglieder war übrigens über 30.

Warum haben Sie dem Buch einen Nachlauf gegeben? Die Schilderungen enden erst 1948.

KUTTLER Ich fand es spannend, wie Albert Ames und Petronella Lück, beides altgediente Lehrkräfte, die unmittelbare Zeit nach dem Krieg schildern: die Entbehrungen, die Schmach, aber auch die zaghaften Rechtfertigungsversuche. Die Beschreibung des Neuanfangs, der eher einer Kontinuität gleich kam, sind die Lektüre wert.

Verraten Sie uns noch, was eigentlich ein „Hitlerweck“ ist? Und was es mit dem „Eintopfsonntag“ auf sich hat?

KUTTLER Ein bisschen Spannung muss sein. Im Buch gibt’s die Antwort darauf.

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