Die Faszination des Unterwegsseins

Das Ehepaar Monika Burr-Nickels und Werner Nickels aus Löstertal hat mit zehn Kilo Gepäck den Jakobsweg beschritten. "Als wir uns auf die 500 Kilometer von Burgos nach Santiago de Compostella machten, herrschte immer noch Unklarheit über unsere Motivation", sagen beide. Hier ihr Reisebericht

Das Ehepaar Monika Burr-Nickels und Werner Nickels aus Löstertal hat mit zehn Kilo Gepäck den Jakobsweg beschritten. "Als wir uns auf die 500 Kilometer von Burgos nach Santiago de Compostella machten, herrschte immer noch Unklarheit über unsere Motivation", sagen beide. Hier ihr Reisebericht. "Je nach Ausgangslage schwanken wir zwischen sportlicher Herausforderung und dem Erleben der ersten europäischen Kulturstraße, die uns mittelalterliches Leben und Glauben näher bringen soll. In der Kathedrale Santa Maria in Burgos bekommt unser Pilgerpass den ersten Stempel. 18 Tage liegen vor uns, 18 Tage, die sich in ihrem Ablauf ähneln. Aufstehen gegen 5.30 Uhr. Zwischen sechs und sieben Uhr Aufbruch, je nach angestrebtem Ziel. Frühstück in einer Bar. Ankunft am Nachmittag, Hostal oder Hotel beziehen, duschen, Fußpflege, Wäsche waschen, Besichtigungen machen, Gespräche mit anderen Wanderern. Auch wenn sich der Tagesablauf gleicht, kein Tag ist wie der andere. Unzählige Kirchen, Klöster, Denkmäler säumen die Straßen, Dörfer und Städte und geben Zeugnis von dem mittelalterlichen Pilgerweg, dessen Wegmarkierung die Jakobsmuschel darstellt. Die kulturellen Schätze und die landschaftliche Vielfalt, die diesen Pilgerweg so eindrucksvoll und unvergesslich gestalten, können an dieser Stelle nur auszugsweise dokumentiert werden. Bereits am ersten Tag unserer Wanderung erreichen wir die kastilische Hochebene, die Meseta. Abgeerntete Getreidefelder, die je nach Sonneneinstrahlung das Weiß des Kalksandsteinbodens zum Vorschein bringen oder das Grau des absterbenden Strohs, begleiten uns viele Stunden. Erst vor Fromista ändert sich die Landschaft. Die Wiesen, auf denen unzählige Schafe grasen, sind saftig grün, ein Jahrhunderte altes Bewässerungssystem mit beeindruckender Schleusentechnik macht dies möglich. Wir krönen den Tag durch den Besuch der weltberühmten Kirche St. Martin, ein Meisterwerk der Romanik. Die kühle Stille, der Geruch von Sandstein und Weihrauch, nehmen uns gefangen. Der Weg nach Leon ist steinig. Die vorbeifahrenden Radfahrer grüßen respektvoll. Doch die faszinierend schöne Altstadt, die die schönste Kathedrale Spaniens beherbergt, entschädigt für alle Strapazen. Lichtdurchflutet präsentiert sich die im 13. und 14. Jahrhundert im Stil der französischen Gotik erbaute Kirche, 200 Fenster mit insgesamt 1800 Quadratmetern Fensterfläche vermerkt der Stadtführer. Und Glück haben wir auch: Ein Doppelzimmer im Kloster San Marcos ist noch frei. Wir genießen den Gesang der Nonnen beim Einschlafen, starten früh in den neuen Tag und erleben dabei den besonderen Charme der langsam erwachenden Stadt. Über Astorga, die alte römische Stadt mit dem berühmten Bischofspalast von Antonio Gaudi, gelangen wir nach Rabanal, wo sich drei junge Benediktiner von der Abtei St. Ottilien bei München niedergelassen haben. Unser erstes Ziel am 10. Tag unserer Wanderung ist das Cruce Ferro auf 1504 Metern Höhe, eines der ältesten Symbole des Pilgerweges. Wunderbare Ausblicke auf eine grandiose Berglandschaft lassen uns immer wieder innehalten. Über Molinaseca und Ponferrada mit der gewaltigen Burg der Templer aus dem zwölften Jahrhundert folgen wir dem mittelalterlichen Pilgerweg nach Villa franca, eine der vielen Städte, die ihre Entstehung dem Pilgerpfad verdanken. Das verraten die Bausubstanz und die vielen Verweise auf den mittelalterlichen Pilgerweg: Burg, Stiftskirche, Franziskanerkloster und ganz besonders die Santiago-Kirche. Ein romanisches Gotteshaus, das aus einem einzigen Schiff besteht und berühmt ist wegen seines reich verzierten Nordportals, dem Tor der Vergebung. Ein europäisches Kulturdenkmal, das uns wegen seiner Geschichte und seiner schlichten Schönheit tief beeindruckt. Der Respekt vor der Bergetappe, dem camino duro, lässt uns früh aufbrechen. Auf dem Weg nach El Cebreiro (1500 Meter) lernen wir ein neues Verkehrsschild kennen: "Vorsicht Pilger". Saftige Wiesen, reißende Bäche, weidende Kühe und Schafe und überaus freundliche Menschen begegnen uns in dieser herrlichen Berglandschaft. Auf dem Weg nach Sarria ist die Wetterveränderung spürbar. Am Nachmittag entladen sich die ersten Gewitter. Als wir Sarria verlassen, müssen wir zum ersten Mal unsere Regenkleidung anziehen und die Rucksäcke in Folie verpacken. Es regnet in Strömen. Vor den Herbergen stehen die Wanderer. Abwarten oder weitergehen, um diese Frage dreht sich alles. Am Nachmittag erreichen wir Portomarin über eine riesige Brücke, die über einen Stausee führt. Die große Bedeutung, die das Städtchen im Mittelalter hatte, ist nur noch an einzelnen Monumenten nachvollziehbar. Jakobsritter, Templer und Johanniter haben diese Stadt geprägt, die 1956 in den Fluten eines Stausees unterging. Die noch erhaltenen historischen Zeugnisse, darunter auch die Kirche, wurden im neuen Portomarin wieder aufgebaut. Wir nähern uns Santiago. Die Unterkünfte, Herbergen, Hostals und Hotels füllen sich bereits am frühen Nachmittag. Es sind zwischenzeitlich viele Spanier hinzugekommen, die ihren Pilgerweg 100 Kilometer vor Santiago begonnen haben. Der Weg nach Arzua führt durch beschauliche Dörfer, deren Bausubstanz zerfällt. Überall entstehen Neubauten. Nur die alten galizischen Getreidespeicher ragen wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit hervor. Über die mittelalterliche Brücke in Furelos erreichen wir Melide, eine bedeutende Stadt im Mittelalter. Unsere zweitletzte Etappe nach Labacolla führt uns durch Wälder, in denen es betörend nach Eukalyptus riecht. Ein letztes Mal wird Wäsche gewaschen, die Leine gespannt, damit wir wie die Pilger im Mittelalter in sauberer Kleidung in Santiago ankommen. Ausgeschlafen und erwartungsfroh machen wir uns auf den Weg nach Santiago und erreichen schon bald den Monte Gozo. Seit 18 Tagen sind wir auf dem Weg nach Santiago, nun liegt die Stadt vor uns. Auf den ersten Blick eine moderne Stadt. Erst nach einer weiteren Stunde erreichen wir die Altstadt. Sie ist wunderschön und voller Leben. Wir sind an der Kathedrale von Compostela angelangt. Die Ästhetik dieser architektonisch und stilistisch einmaligen Kirche mit dem Grab des Apostels Jakobus fasziniert die Menschen bis heute. Wir werden bereits erwartet. Jürgen ist da und die österreichischen, kanadischen und spanischen Weggefährten, die unseren Weg bereichert haben. Rucksack an Rucksack stehen wir zu hunderten in der Kathedrale, als sich der riesige Weihrauchkessel, von acht Männern angestoßen, von einem Ende des Kreuzschiffes zum anderen bewegt und dabei einen Halbkreis beschreibt, so dass das Fass fast die Decke berührt. Wir sind angekommen - nach 500 Kilometern Fußmarsch durch den Norden Spaniens. Es machen sich Erleichterung und Freude bemerkbar, aber auch Wehmut. Wir umarmen uns unter Tränen. Unsere gemeinsame Verbindung, der Camino, endet hier. Geblieben ist bis heute die Faszination, die die archaische Form des Reisens auf uns ausgeübt hat, die große körperliche Anstrengung und das damit eng verbundene geistige Erlebnis, das uns ein Stück Freiheit zurückgegeben hat. In der Sprache der Jakobsbrüder heißt es: "Und manchmal werden aus Wanderern Pilger." "Rucksack an Rucksack stehen wir zu Hunderten in der Kathedrale"Monika Burr-Nickels und Werner Nickels

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