Serie Kriegsende im Kreis Die Lebensfreude kehrt allmählich zurück

Die Franzosen hatten nach den Bestimmungen des Waffenstillstandsvertrages das Land an der Saar besetzt und waren damit nun auch die neuen Herren in der Merziger Region. Das Jahr 1919 begann und die Menschen sahen sich einer für sie bis vor wenigen Monaten noch unvorstellbaren Umbruchsituation ausgesetzt. In den folgenden Teilen der Serie soll nun das Geschehen, das die Menschen in der Merziger Region vor 100 Jahren in Atem hielt, nachgezeichnet werden.

 Aufständische Spartakisten im Januar 1919 in Berlin. Unsere Region blieb hingegen frei von revolutionären Wirren.

Aufständische Spartakisten im Januar 1919 in Berlin. Unsere Region blieb hingegen frei von revolutionären Wirren.

Foto: Deutsches Historisches Museum Berlin

Zu diesem Zeitpunkt herrschte in der Bevölkerung angesichts des verlorenen Krieges und der schlechten Lage eine depressive Grundstimmung vor, was auch in der nachfolgenden, ebenfalls am 4. März 1919 veröffentlichten Notiz der Merziger Zeitung deutlich zum Ausdruck kommt:

„Die Fastnachtstage gehen ohne Sang und Klang vorüber. Es wäre auch wirklich nicht zu verstehen, wenn Mummenschanz und Tanzvergnügen sich breitmachten in dieser tieftraurigen Zeit. Man denke nur an die vielen für das Vaterland Gefallenen, an die Tausende und Abertausende Witwen und Waisen, an den tiefen Schmerz der Angehörigen unserer Helden. Es werden vielleicht später wieder Jahre kommen, wenn die Wunden wieder vernarbt sind, dass die Lustbarkeit wieder in ihre Rechte treten wird. Vielleicht!“

Nicht nur die Versorgung mit Lebensmitteln war für die Menschen keineswegs zufriedenstellend. Auch die Geldentwertung und die damit zusammenhängende Verteuerung vieler Güter beschleunigte sich unmittelbar nach dem Kriegsende noch einmal. Schuld daran war neben weiteren wirtschaftlichen Faktoren, wie bereits ausgeführt wurde, nicht zuletzt das Vordringen der während des Krieges lange zurückgestauten Kaufkraft aufgrund der unmittelbar nach dem Kriegsende noch zu geringen Güterproduktion. Die Einführung des Acht-Stunden-Tages und die damit verbundene Erhöhung der Löhne hatte daneben ebenfalls Auswirkungen und die Preisspirale nach oben in Gang gesetzt. Hier tat sich praktisch ein Teufelskreis auf.

Die Merziger Zeitung hatte schon am 21. Januar 1919 auf folgenden Sachverhalt hingewiesen:

„Nach der langen Kriegspause könnte jetzt die Bauzeit wieder beginnen, aber das Material, die Arbeitslöhne usw. sind vorerst noch zu teuer. So werden zurzeit pro 1000 Backsteine 110 M. gezahlt, früher 28. Zement ist fast keiner zu haben. Das Holz ist ebenfalls teuer, obwohl so viel vorhanden ist. Die Arbeitslöhne schweigt man am besten tot. Solange in Obigem kein Preisniedergang eintritt, werden die Bauprojekte zurückgestellt; die Wohnungsnot und die hohen Hausmieten bleiben bestehen. Vorläufig bringt man kaum genug Arbeitskräfte für die erforderlichen Reparaturen bei – es fehlt an allen Enden. Wenn es wieder mehr Ölfarbe gibt, werden die Anstreicher und Maler wieder viel Arbeit bekommen, denn das Städtchen hat seine bekannte Sauberkeit verloren. Innen und außen sehen die Häuser meist verwahrlost aus.“

Die schon während des Krieges einsetzenden gesellschaftlichen Umbrüche und die dadurch eintretenden sozialen Veränderungen, die nicht zuletzt auf die im Schützengraben gemachten Erfahrungen zurückgingen und durch die revolutionären Umtriebe am Kriegsende noch verstärkt wurden, hatten in vielerlei Hinsicht zu einem Wandel des bis dahin obrigkeitsstaatlichen Denkens bei vielen Menschen geführt. Dies wiederum hatte letztendlich das Entstehen neuer Parteien befördert und zu revolutionäre Forderungen, wie einer Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichzeitigen Lohnerhöhungen, geführt.

In dem nachfolgenden Beitrag der Merziger Zeitung vom 10. April 1919 führt der Verfasser jenes Artikels viele der damals herrschenden Probleme und Schwierigkeiten auf die vorstehend geschilderten Umbrüche zurück und schwelgt geradezu nostalgisch von den guten alten Zeiten, wenn es darin heißt:

„Viele der in Stadt und Land projektierten Neu- und Umbauten werden wegen der hohen Arbeiterlöhne, der kurzen Arbeitsschicht und der teuren Rohmaterialien vorläufig nicht zur Ausführung gelangen. Wer wird auch bei diesen nie dagewesenen Verhältnissen ein Haus bauen, das sich später drei bis viermal billiger herstellen lässt. Nach dem Krieg 1870/71 begann eine Gründerperiode; es wurde gebaut, was das Zeug hielt. Wenn auch viele Bauherren, die sich ‚verbaut‘ hatten verkrachten – die Häuser standen aber da und kamen später billig unter den Hammer. Damals waren aber die Arbeitslöhne billig, die Bauhandwerker schafften vom frühen Morgen bis zur Dämmerung; sie befanden sich wohl dabei und waren zufriedener als die Arbeiter von heutzutage. Sie aßen in der Frühpause vergnügt ihre ‚Kurscht‘ Brot, tranken ihren ‚Schlag‘ Branntwein dazu und erzählten saftige Witze untereinander. Schneller als heute war der Rohbau fertig, der Strauß mit bunten Bändern prangte auf dem Dachfirst und gegen Abend wurde dann ‚der Strauß verzehrt‘. Aus einem Fässchen Bier, Limburger Käse und Brot bestand das ‚Festmahl‘. Später wurde dann noch eine ‚Stinkatoris-Dreimänner-Zigarre‘ in Dampf gesetzt, Lieder gesungen und Witze gerissen, – die Bietzerberger zeichneten sich dabei besonders aus; einige Alte von ihnen leben heute noch – die Steinmetze werden bekanntlich so alt wie Methusalem! Die Arbeiter waren ihren Brotherren treu ergeben und gingen durchs Feuer für sie. Wie anders ist das heute geworden! Der Arbeitgeber wird nur als frisch zu melkende Kuh betrachtet. Die Autorität ist gelockert; die Arbeiter möchten am liebsten mit Glacéhandschuhen angefasst werden. Bei einer Zurechtweisung werden sie ausfällig und verlassen die Arbeitsstelle. Ein Trost bleibt den Arbeitgebern: Es kommen auch wieder andere Zeiten, so kann’s nicht weitergehen!“

An der Bausituation und einer herrschenden Wohnungsnot vor allem in Merzig hatte sich auch im Sommer des Jahres noch nichts geändert, wie dem nachfolgenden Bericht der Merziger Zeitung vom 30. Juli 1919 zu entnehmen ist:

„Auch in Merzig herrscht Wohnungsnot im wahrsten Sinne des Wortes. Dieselbe kann aber nicht durch Erbauung neuer Häuser beseitigt werden, solange das Baumaterial so teuer ist und die Löhne so hoch sind. Die Wohnungsnot wird also vorläufig bestehen bleiben und die Gemüter weiter in Aufregung versetzen. Wer jetzt eine Wohnung suchen muss, das ist bei Gott ein armer Mensch. – Durch die amtliche Androhung seitens der Stadtverwaltung, dass die spärlich bewohnten größeren Häuser durch obdachlose Familien zwangsweise belegt würden, sind einige untergekommen. Man ist dieser Drohung zuvorgekommen und hat Familien, die genehm waren, rasch einziehen lassen. Es sind aber immer noch dünn bewohnte Häuser vorhanden, in welchen kleinere Familien unterkommen könnten. Man sei barmherzig und öffne die Tore!“

Ungeachtet der vorstehend beschriebenen Engpässe hinsichtlich der Versorgung mit Lebensmitteln und der herrschenden Wohnungsnot machte sich nach einer gewissen Zeit dann doch wieder ein gewisses Erstarken des Lebensmutes bei den Menschen bemerkbar. Beim Lesen des nachfolgenden Berichtes der Merziger Zeitung vom 26. April 1919 hat man sogar den Eindruck, als ob langsam wieder eine gewisse Normalität in dieser Umbruchsphase nach dem verlorenen Krieg einkehren würde. Allerdings lässt sich aus dem Ende des Artikels dennoch eine gewisse Hoffnungslosigkeit herauslesen und es tritt das Krisenhafte der Zeitumstände deutlich hervor. Zu bedenken gilt gleichzeitig aber auch, dass Berichte dieser Art zur damaligen Zeit jedoch oft auch mit einem heute nicht mehr gebräuchlichen Pathos verbunden sind, wenn dort ausgeführt wird:

„Am Ostermontag wurde allenthalben in den Ortschaften unseres Kreises nach Herzenslust – trotz der öden, trüben Zeit – das Tanzbein geschwungen. Man kann der Jugend ein Tänzchen in Ehren von Herzen gönnen, hatte sie doch während der langen Kriegszeit auch in dieser Beziehung das Fasten gelernt. Die jungen Tänzerinnen von jetzt waren zu Anfang des Krieges ja noch ‚im Flügelkleide und gingen in die Mädchenschule‘. Sie kannten das Tanzen nur vom Hörensagen. Jetzt, zur holden Jungfrau erwacht, sind sie nicht mehr zu halten. ‚Wie die Alten sungen, so zwitschern auch schon die Jungen.‘ So ergeht es auch den strammen Jünglingen, die ihre schönsten Jugendjahre im Schützengraben verleben mussten, die Muskete in der Hand bei Tag und Nacht. Da hatten sie keine Gelegenheit zum Tanzen – für manche waren es Totentänze mit dem grimmigen Sensenmann! Gönnen wir den Überlebenden jetzt ihr Tänzchen und was drum und dran hängt: Einen Kuss in Ehren kann niemand verwehren! Die leichtlebige Jugend kann sich besser in die neue Zeit hineinleben; sie vergisst auch eher die schrecklichen Tage des unglücklich verlaufenen Krieges. Nur die Alten können sich in die ganz veränderte Neuzeit schlecht einleben. Viele sind an gebrochenem Herzen gestorben, aber sie sind zu beneiden. Denn alle, die jetzt unter dem grünen Rasen ruhen, sie hätten doch nichts Schönes mehr erlebt.“

Ganz ohne Pathos kommt dagegen der folgende Bericht vom 23. Juni über die Merziger Kirmes aus. Vielmehr ist das, was darin vermeldet wird, für die damaligen Verhältnisse kaum zu glauben, wenn es dort heißt:

„Gestern feierte Merzig die erste Kirmes wieder nach dem Krieg, nach fünfjähriger Pause. Dazu strömte von allen Seiten zu Fuß und mit der Bahn eine riesige Menschenmenge herbei. Die Staatsbahn brachte um 2 Uhr eine hier selten gesehene Masse Menschen (weit über 4000), die Kleinbahn nicht minder. Man musste wirklich staunen, wie sie befördert werden konnte. Sämtliche Straßen der Stadt und natürlich der Budenplatz auf dem Viehmarkt zeigten ein selten gesehenes Leben und Treiben, es mögen an die 10000 Fremde in Merzig gewesen sein. Sie alle zogen vergnügungshalber nach hier, nicht der Verkaufsstände wegen, wie früher vielfach angenommen wurde. Es ist kein Unglück gewesen, dass die Verkaufsbuden aus Post- und Schankstraße, die doch nur den Verkehr behinderten, ganz wegblieben. Wir brauchen zur Anziehung für unsere Kirmes keine Blech-, Porzellan-, Schuhbuden u. dgl., das hat der gestrige Tag zur Genüge bewiesen. In den Tanzsälen sind, wie wir hören, über 3000 Eintrittskarten ausgegeben worden, was wohl noch nie dagewesen sein dürfte.“

Auch aus dem Bericht der Merziger Zeitung vom 22. August 1919 aus Reimsbach über die dort an Maria Himmelfahrt gefeierte Kirmes lässt sich entnehmen, dass die Menschen, nachdem einige Monate seit dem Kriegsende vergangen waren, auch in den Dörfern mehr und mehr geradezu nach Vergnügen lechzten, wenn es dort heißt:

„Am letzten Sonntag und Montag wurde in hiesiger Pfarrei das Kirchweihfest, der sogenannte ‚Liebfrauenwaschtag‘, gefeiert. Es ist dies die erste Kirmes seit dem Jahr 1913, und sie wurde dementsprechend festlich begangen. Von nah und fern eilten in früher Morgenstunde, teils zu Fuß, teils per Wagen, die Kirmesgäste herbei, ihre Verwandten und Bekannten zu besuchen. Aus Küche und Keller holte man das Beste herbei, um es den Gästen vorzusetzen. Die Gasthäuser hatten für Speise und Trank gut gesorgt, sodass niemand hungrig oder durstig keimzukehren brauchte. In allen Lokalen waren Tanzvergnügen, wo ‚Jung und Alt‘ den Weisen eines flotten Walzers oder Rheinländers im Tanzschritt folgten. Die Musik wurde teils von auswärtigen Vereinen, teils aber auch von Dorfmusikern, die ihre Sache sehr gut machten, gestellt. Besonderen Zugang hatte der in Oppen bei Gastwirt Stein gastierende Musikkünstler Hans Kaufmann aus Saarbrücken, der eine ganze Musikkapelle ersetzt, da er 10 verschiedene Instrumente gleichzeitig spielt. Kaufmann, der es verstand, durch Musik- und Gesangsvorträge, vermischt mit derbem Witz, die Lachmuskeln seiner Zuhörer zu reizen, erntete lebhaften Beifall und reichen Lohn in klingendem ‚Papiergeld‘. – Nur die Schuljugend wurde bei der ganzen Kirmes stiefmütterlich behandelt; denn außer zwei Zuckerständen, die schnell ausverkauft hatten, war nichts für sie getan. Karussell und Schaukel, die größte Freude der Kinder, fehlten, obwohl auch sie gute Geschäfte gemacht hätten. Die Kirmestage verliefen ohne jede Störung, und jeder kam auf seine Rechnung.“

Alles in allem gesehen war die Revolution in der Merziger Gegend erstaunlich friedlich verlaufen. Überhaupt war auch die übrige Saarregion von den weiteren Wirren und blutigen Unruhen mit Aufständen, die im übrigen Deutschland schon bald eingesetzt hatten, wie beispielsweise dem so genannten Spartakusaufstand im Januar in Berlin, der die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, der Führer der KPD, zur Folge hatte, oder den Unruhen, die Anfang März begannen, als Anhänger der KPD einen Generalstreik ausriefen, der sich zu einem bewaffneten Aufstand ausweitete, verschont geblieben. Auch in München war es, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, zu Aufständen gekommen, als am 7. April 1919 dort eine Räterepublik ausgerufen wurde, die am 2. Mai nach blutigen Straßenschlachten mit der Besetzung Münchens durch regierungstreue Verbände endete.

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