Das Gefühl von Aufbruch

Orscholz · Kanzlerkandidat Martin Schulz sorgt in Orscholz für einen „im wahrsten Sinne außerordentlichen SPD-Landesparteitag“.

 Orscholz steht am Freitag ganz im Zeichen von Martin Schulz: Anke Rehlinger überreicht ihm ein entsprechend abgewandeltes Ortsschild. Foto: Becker&bredel

Orscholz steht am Freitag ganz im Zeichen von Martin Schulz: Anke Rehlinger überreicht ihm ein entsprechend abgewandeltes Ortsschild. Foto: Becker&bredel

Foto: Becker&bredel

Zum Schluss, Beifall und Jubelrufe für seine Rede füllen minutenlang die Halle, überreicht ihm Anke Rehlinger ein großes, gelbes Ortseingangsschild: "Orschulz" steht da drauf. Ein schönes Sinnbild dafür, dass der Veranstaltungsort Orscholz an diesem Freitagabend ganz im Zeichen von Martin Schulz steht. Als vor Wochen das Cloef-Atrium für den außerordentlichen Landesparteitag angemietet wurde, um dort das Regierungsprogramm der Saar-SPD zu verabschieden, hatte mit ihm noch niemand gerechnet. Wie überrascht, ja erstaunt die Genossen über den rasanten Aufstieg ihres neuen Kanzlerkandidaten und außer sich über dessen Besuch sind, zeigt sich nicht nur an Sätzen, wie sie etwa SPD-Landeschef und Bundesjustizminister Heiko Maas in seiner Eröffnungsrede atemlos hervorbringt: "Das ist im wahrsten Sinne ein außerordentlicher Landesparteitag." Auch der Saal platzt angesichts von rund 850 Besuchern aus allen Nähten. Unvorbereitet trifft die saarländischen Sozialdemokraten zudem der Medienrummel: Die bundesweiten Medien haben für die Berichterstattung im abgeschiedenen Cloef-Atrium keinen Handyempfang, der Internetzugang ist überlastet. Die saarländische SPD-Spitzenkandidatin Rehlinger sagt derweil vorne auf der Rednerbühne: "Ich habe ein Gefühl des Aufbruchs, das ich so in dieser Partei noch nie erlebt habe." Dass man vieles von dem, was Schulz an diesem Abend sagt, so oder so ähnlich schon einmal von ihm gehört hat, spielt da schon keine Rolle mehr.

Deutschland müsse wieder gerechter werden, sagt er. Für die Regierung müsse der erste Artikel des Grundgesetzes Leitlinie sein: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Überhaupt: die Würde. Schulz erwähnt sie oft in seiner gut halbstündigen Rede. Der Bürger müsse "in Würde leben können", eine gute Bildung erhalten und genug verdienen, um ein "selbstbestimmtes Leben" führen zu können. Das Rezept dafür: "Die Rückbesinnung auf die traditionellen Werte der SPD", sagt der 61-Jährige. "Ja", räumt er ein, "das mag vielleicht altbacken klingen, aber nichts braucht unser Land mehr." Der stürmische Applaus, den er für solche Sätze erhält, zeigt, wie sehr Schulz offenbar Balsam für die sozialdemokratische Seele ist. Und Schulz versteht es, diese Seele auch rhetorisch bei Kräften zu halten: Ritardando, Kunstpausen, Wortgewitter. Es gibt Augenblicke, da ist es zwischen seinen Sätzen mucksmäuschenstill in der überfüllten Halle. Etwa wenn er von "Respekt vor dem anderen" redet, dann innehält - und lautstark hinterherschickt, dass die AfD zwar "für alles einen Sündenbock, aber für nichts eine Lösung" habe.

Kämpferisch gibt sich zuvor auch Rehlinger. "Wir brauchen keine Hetzer und Spalter in unserem Land und erst recht nicht in unserem Landtag", ruft sie mit Blick auf die AfD. Über weite Strecken ihrer Rede wird man allerdings den Eindruck nicht los, dass das Kämpferische zuallererst ihrem Bemühen um diese Wirkung gilt. Erst als sie sich einmal verplappert, kommt ihre unverfälschte, schlagfertige und humoristische Art, die sie eigentlich auszeichnet, zum Vorschein. Sie sagt, dass die Saar-SPD kämpfen werde bis zum Wahltag, bis zur letzten Minute "um 19:59 Uhr". Als daraufhin Gelächter durch die Reihen geht, stutzt sie kurz und fragt kurzerhand ins Publikum: "Was hab' ich jetzt gesagt?" Als sie ihren Versprecher begreift (die Wahllokale schließen um 18 Uhr), meint sie: "Ja, die Briefwahl muss ja auch noch ausgezählt werden." Lachen im Publikum. Und sie legt nach, jetzt sichtlich vergnügt: "Da war jetzt die Zeitverschiebung mit drin, das Saarland ist ja ein großes Land." Die Halle grölt.

Sie skizziert die Eckpunkte des SPD-Regierungsprogramms, das die Delegierten anschließend einstimmig verabschieden werden. Dazu gehört, "möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen", die Automobil- und Stahlindustrie im Land zu stärken ("Das Saarland hat ein Herz aus Stahl"), den Personalabbau bei der Polizei zu stoppen und in Sanierung und Ausbau der Infrastruktur zu investieren. Die Bildung nimmt eine zentrale Stellung ein: Hier will die SPD die Gebühren für Krippen und Kitas erst senken und dann "nach und nach" abschaffen. Zudem soll es einen gesetzlichen Anspruch auf einen Ganztagsschulplatz geben. Dass die Partei nun doch - und entgegen der bisherigen Vorgabe ihres Bildungsministers Ulrich Commerçon zum Wohle des Schulfriedens - das neunjährige Gymnasium wiedereinführen will, begründet Rehlinger so: "Dass dies in den letzten fünf Jahren nicht angegangen wurde, lag nicht daran, dass wir eine andere Haltung hatten, sondern dass Commerçon alle Hände voll zu tun hatte, erst einmal andere Korrekturen im Schulwesen vorzunehmen."

Die Bildungspläne, insbesondere die geplanten kostenfreien Kita- und Krippenplätze, sind es auch, die die rheinland-pfälzische SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer in ihrer Gastrede als Vorbild für den Bund lobt. Als Dreyer an anderer Stelle erwähnt, dass die SPD im Saarland vielleicht nicht alles, was sie vorhat, auch werde umsetzen können, mag manchem in der Partei kurz der Atem stocken. Aber Ehrlichkeit, das bekunden am Freitagabend auch Mitglieder des SPD-Landesvorstands voll Begeisterung, ist offenbar die Tugend, mit der auch die Popularität von Martin Schulz ihren Anfang nahm.

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Kernpunkte des Regierungsprogramms der SPD: Neben kostenfreien Kita- und Krippenplätzen und einem gesetzlichen Anspruch auf Ganztagsschulplätze plant die SPD eine finanzielle Entlastung im Handwerk mit einem Meister-Bonus. Die Gründung von Betriebsräten in Unternehmen mit bis zu 100 Beschäftigten soll erleichtert werden. Stahl- und Automobil-Industrie sollen unterstützt, die Digitalisierung vorangetrieben sowie in Sanierung und Neubau von Straßen und Brücken investiert werden.

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