Wo psychisch Kranke Obhut fanden

Merzig · Die Merziger Krankenanstalt nahm ab Mai 1876 Patienten aus dem Regierungsbezirk Trier auf.

 Das klassizistische Hauptgebäude des Krankenhauses in Merzig wurde im Jahr 1872 erbaut. Foto: SZ-Archiv

Das klassizistische Hauptgebäude des Krankenhauses in Merzig wurde im Jahr 1872 erbaut. Foto: SZ-Archiv

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Wurden vorstehend die Anfänge der vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gegründeten Krankenhäuser beschrieben, so fehlt in dieser Darstellung noch eine Einrichtung im heutigen Kreisgebiet, die im Grunde genommen als erste die Bezeichnung Krankenhaus oder Krankenanstalt verdient hatte. In einem Bericht des Saarlouiser Journals vom 12. April 1876 heißt es nämlich: "Mit dem 1. April ist die neue Irrenanstalt bei Merzig eröffnet worden und es werden vom Monat Mai dieses Jahres ab Kranke dort aufgenommen werden. (…) In Merzig werden fortan die Kranken aus dem Regierungsbezirk Trier aufgenommen werden. Vom 1. Mai ab werden die in der Irrenheilanstalt zu Siegburg befindlichen Geisteskranken aus dem Bezirke Trier nach Merzig überführt werden und so fällt damit der ominöse Spruch: ‚Er ist reif für Siegburg‘ ebenfalls in Vergessenheit."

Es ist anzunehmen, dass der Verfasser der vorstehenden Zeilen sich damals wohl nicht der Tatsache bewusst war, dass in dem zuvor zitierten Spruch recht bald schon der Name "Siegburg" durch "Merzig" ersetzt werden sollte.

Über lange Zeit war bei den Menschen die unselige Vorstellung und Auffassung vorhanden, psychische Erkrankungen oder "Geistesstörungen" seien Ausfluss von "sittlicher Entartung und dämonischer Besessenheit".

Nur langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass das "Irrsein" eine Erkrankung darstellt, der man medizinisch durch ärztliche Behandlungen begegnen kann. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland daraufhin die ersten Krankenanstalten zur Heilung und Pflege psychisch Erkrankter oder von "Geisteskranken", wie es lange Zeit hieß, gegründet.

Mit den Bauarbeiten für die weitläufige Anlage, deren sehr repräsentatives Hauptgebäude im klassizistischen Stil errichtet wurde, hatte man aufgrund des Krieges 1870/71 erst im Jahr 1872 begonnen. In dem zuvor zitierten Artikel, dem man entnehmen kann, dass für die damalige Zeit relativ modern anmutende Behandlungsmethoden und -konzepte Anwendung fanden, heißt es dann weiter: "Die Irrenanstalt Merzig ist sehr komfortabel eingerichtet und wird alle ihre häuslichen Geschäfte soweit als möglich mit maschinellen Einrichtungen besorgen. Zur Beschäftigung für die Kranken sind neben den Einrichtungen zur Erholung und Zerstreuung auch Handwerker-Werkstätten errichtet, worin die Kranken, je nach ihrem Geschäfte, das sie erlernt und soweit es ihr Zustand erlaubt, beschäftigt werden. Es werden jedoch keine Gegenstände für den Verkauf angefertigt, sondern nur für den eigenen Bedarf der Anstalt."

Das wachsende deutsche Nationalbewusstsein nach der Reichsgründung und die beträchtlichen wirtschaftlichen Gewinne der Gründerzeit hatten die bürgerliche Wohnkultur nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch in der Merziger Region stark beeinflusst. In seinem aufwendigen, repräsentativen Lebensstil orientierte sich das Bürgertum verstärkt an der alten Elite, dem Adel. Die neuen Fabrikantenvillen wurden nicht mehr wie früher auf dem Fabrikgelände, sondern außerhalb als Landsitze errichtet.

Begünstigt durch wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand sowie geprägt von einem gesteigerten Bedürfnis nach Rang und Selbstdarstellung wurde häusliche Repräsentation häufig durch Verwendung von Formen aus der Vergangenheit inszeniert. Der so genannte Gründerzeitstil war geprägt vom Historismus und machte Anleihen bei verschiedenen Stilrichtungen früherer Epochen. Er fand Eingang in die bürgerliche Wohnkultur und behauptete sich neben dem um die Jahrhundertwende ebenfalls aufkommenden Jugendstil bis in das 20. Jahrhundert.

Beispiele hierfür lassen sich auch in der Merziger Region finden. Zu nennen wären hier in Mettlach Schloss Ziegelberg, das 1878 für die Familie Edmund von Bochs als Wohnhaus errichtet wurde, und Schloss Saareck, das in den Jahren 1902/03 als Wohnhaus der Familie René von Bochs erbaut wurde. Nach dessen Tod im Jahre 1908 wurde es zum Wohnsitz seines Sohnes Luitwin, der es im Jahre 1911 durch Anbauten verändern und vergrößern ließ. Schloß Saareck zeigt Formen und Charakteristika des neoromanischen Stiles, den man nach 1900 noch verhältnismäßig oft zur Ausführung brachte.

In der Stadt Merzig lassen sich ebenfalls Beispiele für repräsentative Bauten aus dieser Zeit anführen. An erster Stelle wäre hier Schloss Fellenberg mit seinen Erkern und Türmchen zu nennen, das ein anschauliches Beispiel für die Architektur des 19. Jahrhunderts darstellt. Aber auch die 1891 erbaute "Villa Thiel", die der damalige Merziger Bürgermeister Ernst Christian Thiel errichten ließ, lässt sich anführen.

In Merzig ließen sich noch viele weitere Beispiele für repräsentative Häuser und Gebäude aus der Zeit vor und um die Jahrhundertwende aufführen, die der Stadt zu einem immer stärker werdenden städtischen Gepräge verhalfen.

Hierzu zählen nicht zuletzt die Gebäude um die 1872 errichtete Villa Fuchs in der Bahnhofstraße, ebenso wie weitere in der Hochwaldstraße, darunter das um 1900 erbaute ehemalige Landratsamt. In der Kreisstadt war daneben eine beträchtliche Zahl der hier lebenden Juden in den bürgerlichen Mittelstand aufgestiegen und lebte in Wohlstand und gehobenen Verhältnissen. Erwähnung muss daher noch finden, dass im letzten Jahrzehnt vor dem 1. Weltkrieg deshalb jüdische Kaufleute wesentlich dazu beitrugen, Merzig ein städtisches Aussehen zu verleihen, indem sie repräsentative Wohn- und Geschäftshäuser aus Sandstein errichteten, etwa am Kirchplatz, in der Poststraße und in der Schankstraße. Die Häuser bilden zum Teil heute noch eindrucksvolle Baudenkmäler der Wilhelminischen Zeit.

In Merzig wurden zudem auch technische Neuerungen eingeführt. 1877 gab es hier das erste Telefon, zehn Jahre später, 1887, eine mittels Gasversorgung betriebene Straßenbeleuchtung. Bereits zwei Jahre zuvor war in der Stadt ein Gaswerk gegründet worden. 1896 begann man hier schließlich dann mit der Verlegung der Wasserleitung.

Doch nicht nur die Stadt Merzig war zwischenzeitlich, was ihre Einwohnerzahl betraf, stark gewachsen. Auch viele andere Ortschaften der Region hatten ein starkes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen, was hier ebenfalls zu einer regen Bautätigkeit geführt hatte. Dies galt nicht zuletzt für die Industriestandorte Mettlach und Beckingen, aber auch für Losheim beispielsweise, wo man bei genauem Hinsehen selbst heute noch Häuser und Gebäude findet, die kurz vor oder nach der Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert im Stil der damaligen Zeit erbaut worden sind.

Was das Bevölkerungswachstum betrifft, so war die Stadt Merzig von 4.181 Einwohnern im Jahr 1871 auf 6.536 im Jahr 1900 gewachsen. Daneben gab es 1900 mittlerweile mit Beckingen, Besseringen, Brotdorf, Düppenweiler, Keuchingen, Losheim, Mettlach, Nunkirchen, Orscholz, Saarhölzbach, Wahlen und Weiskirchen Orte, die über 1.000 Einwohner zählten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Einwohnerzahl von Wadern dagegen von 1.010 im Jahre 1871 auf 983 zurückgegangen war.

Es fällt weiter auf, dass gerade Mettlach und Keuchingen, aber auch Besseringen, Orscholz und Saarhölzbach ein geradezu rasantes Wachstum aufweisen konnten, was nicht zuletzt mit der Entwicklung von Villeroy & Boch zusammenhängen dürfte. Gleiches gilt für Beckingen und die Schraubenfabrik Karcher, denn der Ort wuchs von 863 Einwohnern 1871 auf 1.963 im Jahr 1900. Demgegenüber hatten Losheim und Wahlen in ihrer Entwicklung praktisch stagniert. Im Bereich der Obermosel gab es im Jahr 1900 dagegen keinen Ort, der auch nur annähernd an 1.000 Einwohner heranreichte. Nennig war mit 741 Einwohnern der größte Ort der heutigen Gemeinde Perl.

In vielen Ortschaften einer damals so stark katholisch geprägten Region waren durch das Bevölkerungswachstum auch viele Kirchen zu klein geworden. So wurden in den größeren Orten des heutigen Kreisgebietes um die Jahrhundertwende große, meist ortsbildprägende Kirchenbauten in historistischen Stilen erbaut bzw. bereits bestehende Kirchen umgebaut und vergrößert.

In Beckingen geschah dies mit der von dem Baumeister Carl Friedrich Müller in neugotischem Stil errichteten neuen Pfarrkirche bereits in den Jahren 1861-63. Bei den meisten der um die Jahrhundertwende errichteten Kirchengebäude wird als Architekt Wilhelm Hector, der zu diesem Zeitpunkt wohl renommierteste Kirchenbaumeister der Saarregion, genannt. Für die Kirchen von Besseringen (1906-09), Düppenweiler (1897-1900), Hilbringen (1890-91) und Reimsbach (1898-01) entschied er sich dabei für den neugotischen Stil, bei denen in Kostenbach (1887-89) und Wadrill (1888-90), wo er lediglich das Kirchenschiff an den romanischen Turm anbaute, dagegen für die Formen der Neoromanik.

Wilhelm Hector war ein Architekt, der in der Lage war, mit knappen finanziellen Mitteln relativ große Kirchen zu bauen. Seine Bauten wiesen ungeachtet dessen eine hohe architektonische und handwerkliche Qualität auf, was auch heute noch zu sehen ist. Dieses Talent Hectors war für seine Auftraggeber in seinem hauptsächlichen Wirkungsbereich an der Saar von großer Bedeutung, da die Pfarreien der Saarregion nicht mit besonderen Reichtümern gesegnet waren. Sie mussten sich die notwendigen Mittel für den Kirchenbau durch Spenden und Sammlungen bei den durchwegs nicht wohlhabenden Gläubigen in der eigenen und in fremden Pfarreien sowie durch sonstige Aktivitäten besorgen.

In Nunkirchen fiel die Wahl allerdings nicht auf Hector, sondern auf den Trierer Diözesanbaumeister Reinhold Wirtz, der in den Jahren 1894-96 die neue Pfarrkirche im neugotischen Stil erbaute. In Mettlach beauftragte man den Mainzer Dombaumeister Ludwig Becker mit dem Neubau einer Pfarrkirche. Becker entschied sich bei der Planung seines monumentalen Bauwerkes für eine Mischung aus neoromanischem und klassizistischem Stil. Die Bauarbeiten begannen Anfang des Jahres 1900 und erstreckten sich bis 1905. Federführend bei der Bauausführung war die damalige Steingutfabrik von Villeroy & Boch. In Schwemlingen wurde schließlich in den Jahren 1913-14 die neue Pfarrkirche in neobarockem Stil nach den Plänen des Architekten Peter Marx errichtet.

In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs war das alltägliche Leben für die Bevölkerung unserer Region in erster Linie von Arbeit geprägt. Für große Teile der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung waren die regelmäßig stattfindenden Feste der damals entstehenden örtlichen Vereine, Kirchweihfeste oder andere lokale Volksfeste zentrale Höhepunkte des gesellschaftlichen Lebens. Ansonsten boten den Männern, die samstags nach Hause kamen, das Kartenspiel oder der Besuch von Wirtshäusern eine willkommene Abwechslung von ihrem harten Arbeitsleben. Der Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes war für die in der Masse tiefgläubigen Menschen in der Merziger Region eine Woche für Woche wiederkehrende Selbstverständlichkeit. Die für die katholische Bevölkerung so bedeutenden Wallfahrten hatten sich durch die Eisenbahn ebenfalls erheblich vereinfacht. < Wird fortgesetzt.

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