Wenn das Gefühlschaos überhand nimmt

Merzig-Wadern · Wenn sich das Leben von heute auf morgen durch einen Schlaganfall, den Ausbruch einer schweren Krankheit, den Tod eines Angehörigen oder einen Unfall schlagartig verändert, sind Betroffene und Angehörige oftmals mit vielen Problemen konfrontiert. Ärzte, Therapeuten, Freunde und Familie können zwar helfen. Doch darüber hinaus können Selbsthilfe-Gruppen Menschen auffangen, Mut machen und durch Erfahrungen wichtige Tipps weitergeben. Die SZ stellt im Rahmen einer Serie stellvertretend einige Selbsthilfe-Gruppen im Landkreis Merzig-Wadern vor.

Franziska P. (Name geändert) ist 32 Jahre alt. Wer mit ihr spricht, hat schnell das Gefühl, dass sie unter großem Druck steht. Wenn sie unbedacht ihre langen Pullover-Ärmel hoch schiebt, kommen Narben an den Unterarmen zum Vorschein. Narben, die sie sich mit einem Rasiermesser selbst zugefügt hat. Nicht etwa, um sich umzubringen, sondern um sich zu spüren. In diesen impulsiven Momenten geht Franziska wie in Trance ins Bad, nimmt die Rasierklinge und schneidet ganz ruhig und kontrolliert durch ihre Haut am Arm. Erst, wenn sie Blut sieht, kommt sie zur Ruhe. Sie fühle sich selbst vorher nicht mehr, sagt Franziska.

So oder so ähnlich geht es den etwa zwei Prozent der Menschen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden. Wobei sich nicht alle Betroffenen ritzen. Borderline ist eine emotionale instabile Persönlichkeitsstörung, die viele Faktoren hat, wie zum Beispiel, dass die Betroffenen Wut, Trauer, Angst oder Gefühlsausbrüche insgesamt sehr viel schlimmer erleben als andere. Sie können ihre Gefühlswelt nur sehr schlecht steuern. Bei ihnen geht es von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. "Borderliner sind viel zu sensibel, haben große Probleme, mit den wechselnden Gefühlen umzugehen", erklärt Franziska.

Sie hat außerdem seit vielen Jahren eine Essstörung, wird schnell aggressiv und setzt sich selbst immer unter großen Druck. Soll sie beispielsweise um 13 Uhr bei Freunden sein, so gibt sie sich selbst vor, dass sie um 12.45 Uhr dort sein muss. Bereits kleine Abweichungen lassen sie die Fassung verlieren. Ein Stau oder unvorhergesehene Probleme bringen sie an den Rand dessen, was sie aushält. Einfach mal entspannt die Füße hochlegen, kann sie nicht. Sie kann nie wirklich loslassen. Ständige Anspannung begleitet sie.

Das ist bei fast allen Betroffenen das typische Bild. Auch Beziehungen scheitern oft. Denn Borderline-Patienten haben auch Probleme mit Nähe und Distanz. Außerdem verletzten manche ihre Partner durch verbale Aggression. Franziska ist seit vielen Jahren in Therapie, kann dadurch schon in etlichen Situationen besser reagieren. "Ich habe eine Notfallkiste mit verschiedenen Sachen. Statt mich zu ritzen, reibe ich mir dann Chili oder Wärmesalbe auf den Arm, bis der ganz rot wird. Ich brauche nicht den Schmerz, sondern ich muss die rote Farbe sehen", sagt Franziska.

So wie sie suchen sich viele Betroffene Wege, ihren Druck abzubauen, ohne selbstaggressiv zu handeln. Sie hören schöne, entspannende Musik, suchen ein Gespräch mit jemandem, telefonieren, lösen Brausetabletten auf oder lassen Gummis am Handgelenk "flitschen". Wichtig ist, dass es gelingt, wenigstens kurzfristig den übermächtigen Druck abzubauen. Was die Persönlichkeitsstörung bei Franziska P. letztendlich ausgelöst hat, ist schwer zu sagen. Doch wie viele der Borderline-Patienten, die sie bereits kennengelernt hat, hat auch sie traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend gemacht. Ihr Bruder wäre als Kind beinahe durch eine schwere Erkrankung gestorben, eine ihr sehr nahe stehende Freundin ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sie selbst wurde mehrfach von einem entfernten Verwandten missbraucht. Verständnis der Eltern oder Hilfe hat sie nie erfahren. Im Gegenteil.

Dass sie etwas wert ist, dass sie liebenswert ist - diese Gefühle haben ihre Eltern ihr nie vermittelt. Der Vater war verbal zu ihr ausfallend und aggressiv. Die Mutter griff er oftmals sogar körperlich an. Geborgenheit und Liebe fand Franziska P. nicht. Auf sich selbst zu achten, fällt ihr bis heute schwer. Andere Menschen sind ihr wichtiger als sie selbst. Die Ursachen, in anderen Kombinationen oder einzeln, nimmt man heute in der Mehrzahl der Krankheitsfälle als typische Auslöser für die Borderline-Persönlichkeitsstörung an, betont Franziska.

Ein Medikament oder Heilmittel gebe es nicht. Sie hat bereits mehrere Aufenthalte in Kliniken hinter sich und geht regelmäßig zur Therapie. Sie lernt dort achtsamer mit sich umzugehen und toleranter zu sein. Aber gut wird es wohl nie, meint Franziska. Trotz alledem kämpft sie für ein normales Leben, gibt nicht auf. Sie will auf jeden Fall arbeiten, macht gerade eine Ausbildung. Soziale Kontakte hat sie, allerdings muss sie sich bei diesen Menschen wirklich angenommen fühlen, sonst kommt wieder das Gefühl der Unsicherheit in ihr hoch. Was ihr jedoch immer hilft, ist die regelmäßige Therapie und eine Selbsthilfegruppe.

> Im nächsten Teil geht es um eine Selbsthilfegruppe für russischstämmige Frauen.

So wie Franziska P. leiden nach Schätzungen rund zwei Prozent der Bevölkerung an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Gerade junge Menschen scheinen in hohem Maße davon betroffen zu sein. Astrid M. hat in Losheim eine Selbsthilfegruppe für Borderline-Patienten gegründet, die auch für Angehörige offen ist. Seit rund drei Jahren treffen sich dort Menschen, die unter der Persönlichkeitsstörung leiden. Tipps oder Ratschläge sind schwierig, sagt Astrid M. Vielmehr gehe es um einen Austausch. "Jeder kann in der Gruppe von seiner Woche erzählen. Daraus entstehen dann meist die Themen, über die wir reden", erklärt die Leiterin der Selbsthilfegruppe. Überraschend ist die Altersstruktur der Gruppe. Denn es sind Betroffene zwischen 20 und 60 Jahren dabei. Doch das sei sehr gut so, da die Älteren auf viele Erfahrungen zurückgreifen können, betont Astrid M. Sie merkt in den wöchentlichen Treffen, wie wichtig das für alle Betroffenen ist. Denn darüber zu reden und zu hören, dass es anderen genauso geht, hilft vielen weiter. "Es ist generell das Schwierigste, jeden Tag zu sehen, dass man keinen Rückfall bekommt", weiß Astrid M. aus der Gruppe. So kann aber jeder viel von den Erfahrungen der anderen mitnehmen und sehen, wie dies ihnen im Alltag helfen kann.

Die Borderline-Selbsthilfegruppe von Astrid M. trifft sich wöchentlich. Für Samstag, 18. Oktober, hat sie einen Vortrag von Psychotherapeut Michael Hahn aus Weiskirchen zum Thema "Borderline" organisiert. Wer Fragen hat oder sich für die Selbsthilfegruppe von Astrid M. interessiert, kann sich direkt an sie wenden, Tel. (0 68 71) 92 24 89, oder Mail: Asti .82@hotmail.com.

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Auf einen blickWer Informationen zu Selbsthilfe-Gruppen im Landkreis Merzig-Wadern sucht oder Unterstützung bei der Gründung neuer Gruppen braucht, kann sich an die Ehrenamtbörse des Landkreises, Bahnhofstraße 44 in Merzig, Tel. (0 68 61) 8 02 65 oder E-Mail ehrenamt@merzig-wadern.de oder an die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe im Saarland (KISS), Futterstraße 27 in Saarbrücken, Telefon (0 68 1) 96 02 13 0, Mail: kontakt@selbsthilfe-saar.de wenden. syrwww.merzig-wadern.dewww.selbsthilfe-saar.de

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