Hilbringen Was Raupen mit der Wehrmacht zu tun haben

HILBRINGEN/NUNKIRCHEN · Der Waderner Bürgermeister Jochen Kuttler hat in der CEB-Akademie über sein Buch „Hitlerweck und Eintopfsonntag“, seine Recherchen und die Menschen dieser Zeit gesprochen.

 Jochen Kuttler (rechts) hat sein Buch „Hitlerweck und Eintopfsonntag“ in der CEB-Akademie vorgestellt.

Jochen Kuttler (rechts) hat sein Buch „Hitlerweck und Eintopfsonntag“ in der CEB-Akademie vorgestellt.

Foto: Ruth Hien / CEB

Eine mustergültige Seidenraupenzucht hat die Oberklasse der hiesigen Volksschule aufgenommen. So berichtete 1939 eine lokale Zeitung, der Artikel liegt der Chronik der Volkskirche Nunkirchen bei. Ebenso wie eine Fotografie. Sechs Jungen blicken in die Kamera, hinter ihnen türmen sich alte Pappkartons, nun das Zuhause der Seidenraupen. Beinahe poetisch beschreibt der Artikel, was ein simples Projekt für den Biologieunterricht sein könnte: „Wie kleine Weihnachtsbäume sehen die Spinnsträuße aus besenartigen Sträußen aus, vollbesetzt mit kleinen Schneeballen, den Kokons, in die die Raupen sich eingesponnen haben.“ Tatsächlich aber werden die Kokons gesammelt und der Wehrmacht zur Verfügung gestellt, um Fallschirme zu produzieren.

Eine Geschichte von vielen, die Jochen Kuttler in seinem Buch „Hitlerweck und Eintopfsonntag – Ein Dorf im ‚Dritten Reich’“ dokumentiert und kommentiert hat. Dieses hat der Waderner Bürgermeister kürzlich in der CEB-Akademie in Hilbringen vorgestellt.

Schon 1990 bekam Kuttler, der selbst aus Nunkirchen stammt, das Angebot, ein Kapitel für die Neuauflage des hiesigen Heimatbuches zu schreiben. Er suchte sich den Zeitraum von 1933 bis 1945 aus, der in keiner bisherigen Auflage verzeichnet war. Für seine Recherchen nutzte er die Chronik der Volksschule Nunkirchen, die später auch die Grundlage für sein Buch „Hitlerweck und Eintopfsonntag“ bot. Kuttler suchte Zeitzeugen, recherchierte, schrieb seinen Artikel. Der stark gekürzt, redigiert, ohne Namen veröffentlicht wurde. „Damals gab es kein Interesse, diese Zeit intensiv zu beleuchten“, sagt Kuttler. Über Jahre bewahrte er die Chronik auf, bis er begann, die in Süttlerin verfassten Aufzeichnungen in die heutige Schriftsprache zu übertragen. Ein mühseliges Unterfangen, erinnerte sich Kuttler: „Süttlerin kann ich lesen, aber die Handschrift dieses Mannes war eine Katastrophe!“ Dieser Mann, das ist der Lehrer Matthias Müller, der die Chronik von 1933 bis 1945 mit dem füllte, was in Nunkirchen geschah.

Jochen Kuttler lässt die Geschehnisse dieser Zeit, aber auch die Entstehung seines Buches an diesem Abend lebendig werden. Er liest kaum aus „Hitlerweck und Eintopfsonntag“ vor, sondern erzählt von seinen Recherchen, was ein Duden-Mitarbeiter und eine Gruppe betagter Damen aus Konstanz damit zu tun hatten und warum er das Buch Ilse Theobald gewidmet hat. Er versuchte herauszufinden, was aus den Menschen geworden war, die in der Chronik erwähnt werden. „Matthias Müller notiert, wie die nationalsozialistische Ideologie das Alltagsleben infiltrierte, wie die große Weltpolitik sich im kleinen Nunkirchen niederschlug.“ Er schrieb auf, wie die Hakenkreuzfahne am 5. März 1933 auf dem Schulgebäude gehisst wurde, was in den kommenden Jahren geschah. Der Hauptlehrer zeigte sich als Mitläufer. An der Wahl der Worte, an den Fakten, die er in die Chronik schrieb, manches nachweisbar verändert, merke man, dass Müller mit der Zeit zum Befürworter des Regimes wird, so Kuttler.

Bei seinen Recherchen ist er auf viele merkwürdige Dinge gestoßen. Zum Beispiel die knappe Schilderung einer Bombennacht. Im heutigen Golfpark warfen Engländer eines Nachts hunderte von Brandbomben und eine Sprengbombe ab. Obwohl dort weit und breit nichts war, abgesehen von einem Gehöft, das nicht einmal getroffen wurde. Was Müller nicht erwähnte, war, dass er an den folgenden Tagen Schulkinder an den Schauplatz führte. Sie klaubten die Bomben auf, die nicht detoniert waren, und brachten sie zu einer Sammelstelle, wie ein damaliger Schüler Kuttler berichtete.

Über Juden äußerte sich Müller nicht. Kuttler habe auch, im Gegensatz zu Losheim und Wadern, keine Informationen über Juden in Nunkirchen finden können. Opfer gab es dennoch. Kuttler erzählt beispielsweise von Albert Valentin, der mit der Diagnose Schizophrenie in eine Psychiatrie eingeliefert und offenbar vergast wurde. Offizielle Todesursache: Herzversagen. Oder von Pfarrer Nikolaus Demmer, der die Nationalsozialisten offen kritisierte und sich, von ihnen verfolgt, über Jahre verstecken musste.

Auch die vielen Gefallenen bleiben nicht unerwähnt. In der Chronik schrieb Müller anfangs alle Daten nieder, mit der Zeit wurden die Informationen immer spärlicher. Sogar Fehler schlichen sich in die Gefallenenliste ein. Franz Porta, der am 27. November 1943 für tot erklärt wurde, tauchte wenige Tage nach der offiziellen Totenfeier wieder auf. Dennoch: „Man merkt, dass Müller mit den vielen Sterbenden nachdenklicher wird“, sagt Kuttler. Als die Amerikaner kamen, stellte Müller schließlich auch die neuen Machthaber positiver dar. Die Schulchronik geht nach seinen Aufzeichnungen weiter, wurde von Albert Ames und Petronella Lück fortgeführt. Wenn Kuttler Zeit hat, will er sich der Zeit zwischen 1948 und 1974 widmen, sagte er.

„Heute ist es ganz einfach zu fragen, wie die Menschen nur so handeln konnten, wie es nur so laufen konnte. Aber die Menschen kannten das Ende damals nicht“, sagt Kuttler. Mit seinem Buch will er die Lust auf Geschichte wecken. Aber auch die Menschen dazu bringen, aufmerksam für Parallelen in der heutigen Zeit zu werden.

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