Von Zamalka bis Kara Tepe

Merzig · Bilal Ajdad zeichnet gerne. Ob Bäume, Häuser oder Menschen, nichts entgeht seinem Stift. In der syrischen Stadt Zamalka, nahe Damaskus, ist er geboren, eines seiner Lieblingsmotive ist das "wunderschöne Haus" der Familie. Seine zweite Leidenschaft neben dem Zeichnen ist das Schwimmen. Ein Hass-Fach in der Schule hat er nicht. Zu Beginn des Bürgerkrieges besucht er die vierte Klasse. 2011 befiehlt der syrische Machthaber Baschar al-Assad den Einsatz der Armee gegen die eigenen Landsleute. Bilal schläft, als das Bombardement beginnt. Zu Gewehrfeuer und Fluglärm wacht er auf. Die Familie versteckt sich im Keller. Viele der Häuser im nahen Umkreis werden zerstört, nicht alle Menschen haben das Glück der Familie Ajdad und überleben den Bombenhagel. Als der Lärm endet, packen sie ihre Sachen zusammen und fliehen. Im Haus der Großmutter in Damaskus finden sie erste Zuflucht. Die Bomben fallen weiter, für die nächsten vier Jahre bleibt ihnen kaum ein ruhiger Tag. Bilal, seine Schwester und sein Bruder besuchen weiter die Schule, sie versuchen, die Normalität zu wahren. Tag für Tag arbeitet der 13-Jährige abends und lernt morgens, immer wieder erbebt das Klassenzimmer. Jahr für Jahr versinkt das Land tiefer im Krieg. Zamalka wird 2013 Opfer des Einsatzes chemischer Waffen. Giftgas-Bomben fallen über einigen Vororten von Damaskus. Kein Stein bleibt auf dem anderen, der Angriff fordert viele Opfer. US-Außenminister John Kerry bezeichnet die Attacke als "moralische Obszönität" und "feiges Verbrechen". Bilals Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat schwindet immer weiter. Vor zirka anderthalb Monaten nun kommen Soldaten zum Haus der Großmutter in Damaskus und zwingen die Familie zur Flucht. Bilals Onkel schließt sich ihnen an. Ihre Reise führt sie in die nord-syrische Stadt Idlib, wo sie die nächste Woche unter widrigsten Bedingungen verbringen. Die türkische Grenze ist geschlossen, nur wenige Flüchtlinge dürfen passieren. Ein Schmuggler bietet der Familie an, sie über die Grenze zu bringen. Sie willigen ein. Das Überqueren der Grenze wird zum Albtraum. Sie kriechen unter Stacheldraht hindurch und laufen danach so schnell, wie sie können. Das türkische Militär entdeckt sie und eröffnet das Feuer. Im Chaos wird die Familie getrennt. Er verliert seine Eltern und seinen Bruder aus den Augen. Bis heute weiß er nicht, wo sie sind, oder ob sie noch leben. Mit seinem Onkel und seiner Schwester flieht Bilal ins Landesinnere. Sie bleiben für einige Tage in einer Stadt, deren Namen er vergessen hat. Danach reisen sie nach Istanbul und bleiben dort für zirka drei Wochen. Sie dürfen keine Aufmerksamkeit erregen, sie sind illegale Einwanderer in der Türkei. In Istanbul arbeitet Bilal als Aushilfselektriker, er muss vorsichtig sein, was er sagt und wohin er sich begibt. An Schule ist nicht mehr zu denken, sie brauchen Geld, um die gefährliche Überfahrt nach Griechenland zu finanzieren. Der Onkel nimmt Kontakt mit einem Schmuggler auf. In einem Container mit zirka 80 anderen Menschen werden sie nach Izmir gebracht und von dort an die türkische Küste. Am Strand angekommen, blasen sie ihre Rettungswesten auf, das viel zu kleine Schlauchboot liegt wartend am Ufer. Der Schmuggler hält Ausschau. Als ein Polizeiauto vorbeifährt, müssen sie sich alle auf den Boden legen und ruhig sein. Stoßgebete werden gen Himmel geschickt und Danksagungen, als die Gefahr vorbei ist. Auf Zuwinken des Schmugglers huschen alle geduckt zum Boot und nehmen ihre Plätze ein. Männer nach außen, Kinder in die Mitte. Manch einer schaltet die Handykamera ein und beginnt zu filmen. Nach einiger Zeit auf See nähert sich ihnen ein Boot der türkischen Küstenwache . Mit Lautsprechern versucht es, sie zum Umkehren zu bewegen. Der Fahrer des kleinen Schlauchboots ignoriert alle Warnungen und beschleunigt weiter. Sie passieren die Küstenwache und kurz darauf die Seegrenze zu Griechenland. Die Gefahr endet jedoch nicht. Erst als sich ein riesiges, graues Schiff der griechischen Armee vor ihnen aufbaut und das kleine Schmugglerboot stoppt, sind sie zumindest nicht mehr in Lebensgefahr. Bilal weiß das zu diesem Zeitpunkt nicht. Anstatt den verängstigten Menschen die Angst zu nehmen, brüllen die Soldaten sie an. "Hinsetzen! Hinsetzen!" Das Handy eines der Flüchtlinge wird konfisziert. Alle Videos von der Überfahrt werden gelöscht. Bilal beschreibt, wie brutal die Soldaten sie behandeln. Sie werden geschubst und in Reihe geschoben. Ein Umgang, den kaum ein europäisches Land mehr verurteilen würde. Doch als seine Füße endlich europäischen Boden berühren, könnte Bilal glücklicher nicht sein. Per Bus werden sie nach Moria gebracht, wo Bilal, seine Schwester und sein Onkel registriert werden. Das staatlich betriebene Camp will der 13-Jährige so schnell wie möglich verlassen. Die Stacheldrahtzäune und die vielen Menschen tragen nicht zum Wohlbefinden der Flüchtlinge bei. Erst als Bilal Kara Tepe erreicht, spürt er, dass er willkommen geheißen wird. "Vielen, vielen Dank", sagt er immer wieder. Er hilft uns mit seinen guten Englischkenntnissen bei der Kleiderverteilung und trägt durch Witze und andauerndes Lächeln zur allgemeinen guten Stimmung bei. Doch er vermisst seine Familie. Immer wieder sagt er es mir in ruhigen Momenten. Er weiß nicht, ob er sie jemals wieder sehen wird, oder ob sie noch am Leben sind. Deutschland sieht er als neue Hoffnung. Er will die Schule beenden, und sein Traumberuf ist Ingenieur. Oft fragt er mich nach deutschen Übersetzungen und beginnt, sie in seinen Wortschatz einzugliedern. Er verdient jede Chance, die wir ihm bieten können. Kontakt zum Autor: E-Mail lesbosvolunteer.wordpress.com

 Ein Rettungsring. Eine Rettungsweste. Eine Geschichte. Foto: Markus Markmeyer

Ein Rettungsring. Eine Rettungsweste. Eine Geschichte. Foto: Markus Markmeyer

Foto: Markus Markmeyer



Bilal Ajdad zeichnet gerne. Ob Bäume, Häuser oder Menschen, nichts entgeht seinem Stift. In der syrischen Stadt Zamalka, nahe Damaskus, ist er geboren, eines seiner Lieblingsmotive ist das "wunderschöne Haus" der Familie. Seine zweite Leidenschaft neben dem Zeichnen ist das Schwimmen. Ein Hass-Fach in der Schule hat er nicht. Zu Beginn des Bürgerkrieges besucht er die vierte Klasse. 2011 befiehlt der syrische Machthaber Baschar al-Assad den Einsatz der Armee gegen die eigenen Landsleute. Bilal schläft, als das Bombardement beginnt. Zu Gewehrfeuer und Fluglärm wacht er auf. Die Familie versteckt sich im Keller. Viele der Häuser im nahen Umkreis werden zerstört, nicht alle Menschen haben das Glück der Familie Ajdad und überleben den Bombenhagel. Als der Lärm endet, packen sie ihre Sachen zusammen und fliehen.

Im Haus der Großmutter in Damaskus finden sie erste Zuflucht. Die Bomben fallen weiter, für die nächsten vier Jahre bleibt ihnen kaum ein ruhiger Tag. Bilal, seine Schwester und sein Bruder besuchen weiter die Schule, sie versuchen, die Normalität zu wahren. Tag für Tag arbeitet der 13-Jährige abends und lernt morgens, immer wieder erbebt das Klassenzimmer.

Jahr für Jahr versinkt das Land tiefer im Krieg. Zamalka wird 2013 Opfer des Einsatzes chemischer Waffen. Giftgas-Bomben fallen über einigen Vororten von Damaskus. Kein Stein bleibt auf dem anderen, der Angriff fordert viele Opfer. US-Außenminister John Kerry bezeichnet die Attacke als "moralische Obszönität" und "feiges Verbrechen". Bilals Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat schwindet immer weiter.

Vor zirka anderthalb Monaten nun kommen Soldaten zum Haus der Großmutter in Damaskus und zwingen die Familie zur Flucht. Bilals Onkel schließt sich ihnen an. Ihre Reise führt sie in die nord-syrische Stadt Idlib, wo sie die nächste Woche unter widrigsten Bedingungen verbringen. Die türkische Grenze ist geschlossen, nur wenige Flüchtlinge dürfen passieren. Ein Schmuggler bietet der Familie an, sie über die Grenze zu bringen. Sie willigen ein. Das Überqueren der Grenze wird zum Albtraum. Sie kriechen unter Stacheldraht hindurch und laufen danach so schnell, wie sie können. Das türkische Militär entdeckt sie und eröffnet das Feuer. Im Chaos wird die Familie getrennt. Er verliert seine Eltern und seinen Bruder aus den Augen. Bis heute weiß er nicht, wo sie sind, oder ob sie noch leben. Mit seinem Onkel und seiner Schwester flieht Bilal ins Landesinnere. Sie bleiben für einige Tage in einer Stadt, deren Namen er vergessen hat. Danach reisen sie nach Istanbul und bleiben dort für zirka drei Wochen. Sie dürfen keine Aufmerksamkeit erregen, sie sind illegale Einwanderer in der Türkei.

In Istanbul arbeitet Bilal als Aushilfselektriker, er muss vorsichtig sein, was er sagt und wohin er sich begibt. An Schule ist nicht mehr zu denken, sie brauchen Geld, um die gefährliche Überfahrt nach Griechenland zu finanzieren. Der Onkel nimmt Kontakt mit einem Schmuggler auf. In einem Container mit zirka 80 anderen Menschen werden sie nach Izmir gebracht und von dort an die türkische Küste. Am Strand angekommen, blasen sie ihre Rettungswesten auf, das viel zu kleine Schlauchboot liegt wartend am Ufer. Der Schmuggler hält Ausschau. Als ein Polizeiauto vorbeifährt, müssen sie sich alle auf den Boden legen und ruhig sein. Stoßgebete werden gen Himmel geschickt und Danksagungen, als die Gefahr vorbei ist. Auf Zuwinken des Schmugglers huschen alle geduckt zum Boot und nehmen ihre Plätze ein. Männer nach außen, Kinder in die Mitte. Manch einer schaltet die Handykamera ein und beginnt zu filmen.

Nach einiger Zeit auf See nähert sich ihnen ein Boot der türkischen Küstenwache . Mit Lautsprechern versucht es, sie zum Umkehren zu bewegen. Der Fahrer des kleinen Schlauchboots ignoriert alle Warnungen und beschleunigt weiter. Sie passieren die Küstenwache und kurz darauf die Seegrenze zu Griechenland. Die Gefahr endet jedoch nicht. Erst als sich ein riesiges, graues Schiff der griechischen Armee vor ihnen aufbaut und das kleine Schmugglerboot stoppt, sind sie zumindest nicht mehr in Lebensgefahr.

Bilal weiß das zu diesem Zeitpunkt nicht. Anstatt den verängstigten Menschen die Angst zu nehmen, brüllen die Soldaten sie an. "Hinsetzen! Hinsetzen!" Das Handy eines der Flüchtlinge wird konfisziert. Alle Videos von der Überfahrt werden gelöscht. Bilal beschreibt, wie brutal die Soldaten sie behandeln. Sie werden geschubst und in Reihe geschoben. Ein Umgang, den kaum ein europäisches Land mehr verurteilen würde.

Doch als seine Füße endlich europäischen Boden berühren, könnte Bilal glücklicher nicht sein. Per Bus werden sie nach Moria gebracht, wo Bilal, seine Schwester und sein Onkel registriert werden. Das staatlich betriebene Camp will der 13-Jährige so schnell wie möglich verlassen. Die Stacheldrahtzäune und die vielen Menschen tragen nicht zum Wohlbefinden der Flüchtlinge bei.

Erst als Bilal Kara Tepe erreicht, spürt er, dass er willkommen geheißen wird. "Vielen, vielen Dank", sagt er immer wieder. Er hilft uns mit seinen guten Englischkenntnissen bei der Kleiderverteilung und trägt durch Witze und andauerndes Lächeln zur allgemeinen guten Stimmung bei.

Doch er vermisst seine Familie. Immer wieder sagt er es mir in ruhigen Momenten. Er weiß nicht, ob er sie jemals wieder sehen wird, oder ob sie noch am Leben sind.

Deutschland sieht er als neue Hoffnung. Er will die Schule beenden, und sein Traumberuf ist Ingenieur. Oft fragt er mich nach deutschen Übersetzungen und beginnt, sie in seinen Wortschatz einzugliedern. Er verdient jede Chance, die wir ihm bieten können.

Kontakt zum Autor: E-Mail

lesbosvolunteer.wordpress.com

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Zur PersonMarkus Markmeyer aus Losheim war ab September vergangenen Jahres für drei Monate durch Osteuropa gereist. Als der 18-Jährige anschließend in Griechenland war, hat er für drei Wochen auf Lesbos Freiwilligendienst bei der Betreuung von Flüchtlingen geleistet. Markmeyer hat im Sommer Abitur am Gymnasium am Stefansberg in Merzig gemacht. Kurz nach dem Jahreswechsel hat es ihn, beeindruckt von den Flüchtlings-Schicksalen, wieder nach Lesbos gezogen. red

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