Ressentiments gegen russische Kriegsgefangene in Dillingen

Kein Thema bewegt seit längerer Zeit die Gemüter im Land so sehr wie die durch die Flüchtlingskrise bedingte Masseneinwanderung nach Deutschland. In diesem SZ-Beitrag soll die Zuwanderung in die Merziger Region während der vergangenen 200 Jahre auch als eine Geschichte der auf vielfache Weise stattgefundenen Begegnung mit dem Fremden dargestellt werden.

Diese Flucht stellte natürlich keinen Einzelfall dar. Die Merziger Zeitung notierte gut zwei Monate später, am 16. Juni 1915: "Dillingen, 15. Juni. Die in der Nacht vom 5. bis 6. Juni entwichenen beiden Russen wurden bei Spittel festgenommen. Sie hatten sich im Wald herumgetrieben und sind durch Bauern, welche ihr Feld bestellten, entdeckt worden. Nach ihrer Festnahme wurden sie wieder zurück nach Dillingen gebracht."

Immer wieder muss es in unserer Region zu Fluchtversuchen von Kriegsgefangenen gekommen sein. Die Merziger Volkszeitung sah sich daher am 8. Juli 1915 genötigt, ihren Lesern folgende Warnung zukommen zu lassen: "Vor einer falschen Gutmütigkeit gegen entsprungene Kriegsgefangene wird dringend gewarnt. Wer einem Kriegsgefangenen bei der Flucht hilft, hilft dem Feind des Landes und handelt dadurch bewusst gegen das vaterländische Interesse. Wer einen entwichenen Kriegsgefangenen sieht oder von seinem Aufenthalt erfährt, hat die Pflicht, unverzüglich der nächsten Polizeibehörde davon Mitteilung zu machen."

Wenn auch die Kriegsgefangenen in der Gefangenschaft bei entsprechendem Verhalten im Gegensatz zum Fronteinsatz nicht unmittelbar um ihr Leben fürchten mussten, war die Kriegsgefangenschaft natürlich dennoch kein Honigschlecken. Daneben wurden den Gefangenen durchaus auch starke Ressentiments entgegengebracht. Ein Beispiel hierfür ist der Leserbrief eines Merzigers, der am 15. März 1915 in der Merziger Zeitung zu lesen war.
Erfahrungen an der Front

Zum Verständnis dessen, auf was sich der Leserbriefschreiber hierbei bezog, muss an dieser Stelle kurz auf folgendes eingegangen werden. Der Einsender war bei den Kämpfen gegen die Russen in Ostpreußen eingesetzt und wohl verwundet worden. Die russische Eroberung großer Teile Ostpreußens zu Beginn des Krieges war mit schweren Verwüstungen durch die feindlichen Truppen einhergegangen, die häufig nicht auf unmittelbare Kriegshandlungen, sondern gezielte Brandstiftung zurückzuführen waren. Die teilweise maßlos übertriebenen Berichte über die von den russischen Truppen begangenen Grausamkeiten an der deutschen Zivilbevölkerung riefen im gesamten Deutschen Reich Schrecken und Abscheu hervor.

Der veröffentlichte Leserbrief hatte folgenden Wortlaut: "Vom verwundeten Landsturmmann Weidig geht uns folgendes zur Veröffentlichung zu: An die Redaktion der Merziger Zeitung! In einem Artikel Ihres Blattes lese ich, dass in Dillingen 200 Russen als Arbeiter beschäftigt sind. Es war dies ein guter Gedanke, den Leuten Beschäftigung zu verschaffen, um ihnen über Langeweile und Gedanken an die Heimat erleichternd hinweg zu helfen. Unter anderem lese ich einen Passus: ‚Die Russen machen durchweg einen guten Eindruck und gelten als fleißige Arbeiter. Verschiedene verstehen deutsch und geben zu verstehen, dass es ihnen hier gut gefällt und dass sie gerne deutsch werden wollten.‘ Der Eindruck, den die Russen im Osten in den Schützengräben machen, ist ein ganz anderer. Ich hatte Gelegenheit genug, die Eindrücke kennen zu lernen. Solange der Russe (hier im Osten genannt ‚Gräte‘) sich in Freiheit und Sicherheit befindet, ist er zu allen Schandtaten fähig. Sengen, Plündern und Rauben ist bei ihm an der Tagesordnung. Kein Abend verging, an dem nicht zwei bis drei Gehöfte in Brand gesteckt wurden, so dass der Himmel einem großen Feuermeer glich. Leute, darunter unschuldige Kinder, wurden hingemartert. Einem wehrlosen Kameraden, den sie beim Überfall eines vorgeschobenen Unteroffizierspostens durch einen Schuss ins Knie verwundeten, so dass er nicht mehr fort konnte, drehten sie das Bajonett in der Brust herum. Ihre eigenen toten Kameraden, die vor ihnen lagen, ließen sie unbeerdigt umher liegen, trotzdem sie dies unbehelligt vornehmen konnten. Einige haben wir beerdigt und ihnen ein Holzkreuz gesetzt mit der Aufschrift: ‚Hier ruht ein tapferer Russe! - Sieht aber der Russe, dass es ihm an den Kragen geht, dann kann er sich nach allen Richtungen schmiegen und krümmen. Bei der Gefangennahme eines Transportes, wo ich dabei war, fielen sie auf die Knie, flehten uns an und wollten uns die Stiefel küssen, während sie noch auf 5 bis 10 m nach uns geschossen hatten. Trotzdem wir als die Barbaren gelten, geschah keinem unnötigerweise etwas zu Leide, während mit Bestimmtheit anzunehmen ist, falls der Fall umgekehrt eingetreten wäre, keiner von uns mit heiler Haut davon gekommen wäre. Also, sobald der Russe in der Falle sitzt und keinen Ausweg hat, wird er ganz artig. - Dass es den Russen gut in Dillingen gefällt, glaube ich auch. Hier in unserem lieben Deutschland lernt er andere Verhältnisse in Bezug auf Ordnung und Reinlichkeit kennen als in seinen schmutzigen, muffigen Lehmbuden, in denen sich teils nicht mal ein Fußboden befindet. Nach all dem Guten und Schönen, was der Russe in unserem lieben deutschen Vaterland kennen lernt, ich erwähne nur Wasch- und Badegelegenheit, die der gewöhnliche Russe gar nicht kennt, ist ja anzunehmen, dass mancher von ihnen gern deutsch werden möchte. Andererseits kann diese Äußerung auch den Glauben erwecken, eine bessere Behandlung zu genießen. - Sicher genießen die Russen in Dillingen eine menschenwürdige Gefangenschaft . Es ist ihnen Gelegenheit geboten zum Arbeiten, was ihnen die Zeit verkürzt; sie haben ihre regelmäßigen Mahlzeiten und auch ihre Mußestunden, auch sichere Gewähr, wieder zu den ihrigen zurückkehren zu können. Ich wünsche nur, dass meine lieben Kameraden, welche sich in russischer Gefangenschaft befinden und teils unter der Kälte in Sibirien schwer zu leiden haben, auch eine solche Behandlung finden mögen, wie die russischen Gefangenen bei den deutschen ‚Dillinger Barbaren‘."
Rascher Vormarsch in Belgien

Dieser Bericht bringt vieles von dem zum Ausdruck, was die deutschen Soldaten in Feldpostbriefen und Erzählungen ihren Angehörigen von der Ostfront nach Hause übermittelten.

Heute sind die Geschehnisse des 1. Weltkriegs in der Erinnerung oder überhaupt, was das historische Bewusstsein angeht, in erster Linie vom raschen Vormarsch der deutschen Truppen durch Belgien sowie von der quasi während des gesamten Krieges durch Frankreich verlaufenden Westfront und dem dort herrschenden Stellungskrieg mit seinen Schützengräben bestimmt.

< Wird fortgesetzt.

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