Merzig „In unserer Gesellschaft ist der Wurm drin“

Prof. Dr. Gunter Kreutz erforscht an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg die psychologischen, körperlichen und sozialen Auswirkungen von Musizieren, Singen und Tanzen unter Laien. Im Interview spricht er über seine Forschungserfahrungen, die Vorteile des gemeinsamen Musizierens und die Probleme unserer Gesellschaft.

 Musikwissenschaftler Prof. Dr. Gunter Kreutz.

Musikwissenschaftler Prof. Dr. Gunter Kreutz.

Foto: Hoffmann

In der Mittagspause ein Liedchen trällern, das klingt für viele sicher befremdlich. Was haben Ihre Studien diesbezüglich ergeben?

Kreutz: Sie haben recht, die meisten reagieren erst einmal abfällig, wenn jemand singen soll, der es nicht professionell gelernt hat. Aber das Singen hat auf den Menschen zahlreiche positive Effekte, völlig unabhängig davon, ob man den Ton trifft oder nicht. Für die Forschung ist das nichts Neues.

Wie wirkt sich das gemeinsame Musizieren aus Sicht der Forschung auf die Menschen aus?

Kreutz: Das gemeinsame Musizieren hat vor allem eine soziale Wirkung. Es bringt die Menschen zusammen, vermindert Stress und sorgt für Lebensfreude und mehr Lebensqualität. Dafür müssen die Beteiligten nicht musikalisch sein. Wie man in den Beiträgen zur Aktion „Klingt nach Teamwork“ sieht, können selbst Beamte zu Entertainern werden. Die Spontaneität, die man in diesen Videos sieht, zeigt, dass es Menschen sind, die dort arbeiten, keine Apparate. Wenn das den Leuten klar wird, haben wir schon einen ersten Schritt zu einer humaneren Gesellschaft getan.

Wo sollten die Menschen am besten gemeinsam Musik machen?

Kreutz: Die Menschen brauchen das gemeinsame Singen, Tanzen oder Musizieren im Berufsleben. Denn in der Regel sind Arbeitswelt und Freizeit strikt voneinander getrennt. Die Menschen holen sich den Stress bei der Arbeit, und versuchen dann, ihn abends und in der Freizeit wieder abzubauen. Das ist der Lebensentwurf von Millionen Menschen. Die Folge: Stress, Depressionen, Unzufriedenheit. Das kann meiner Meinung nach nicht richtig sein.

Wie wirkt sich das außerhalb des Berufslebens aus?

Kreutz: Die Probleme, die die Arbeitswelt mit sich bringt, wirken sich auf alle anderen Bereiche des menschlichen Miteinanders aus. Man sieht das an der mangelnden Selbstkontrolle: Egal ob in den sozialen Medien oder im persönlichen Umgang, die Leute sind sehr schnell bereit, aufeinander loszugehen. Da sieht man, in unserer Gesellschaft ist buchstäblich der Wurm drin. Die Menschen achten zu wenig auf das, was sie tun. Sie achten zu wenig darauf, wie sich ihr Tun auf andere auswirkt. So gesehen kann das gemeinsame Singen Sozialhygiene sein. Wenn die Leute etwa am Arbeitsplatz ihre Kollegen zum Mitsingen bewegen wollen, dann engagieren sie sich, achten auf andere.

Worin sehen Sie den Sinn des Wettbewerbs?

Kreutz: Mir geht es vor allem darum, die Botschaft, wie sehr das gemeinsame Musizieren den Menschen hilft, zu verbreiten. Ich möchte damit ein Zeichen setzen für eine Unternehmenskultur, denn genau an Kultur mangelt es der Arbeitswelt. Meiner Meinung nach sollte man alle Einsendungen prämieren. Da dies nicht möglich ist, werde ich in meiner Bewertung zumindest den künstlerischen Aspekt ganz hintanstellen.

Was bedeutet ‚Kultur‘ für Sie?

Kreutz: Kultur ist für mich etwas, was das Leben schöner macht. Wir müssen uns mit ästhetischen Inhalten auseinandersetzen, denn wenn wir das nicht tun, haben wir am Ende eine Monokultur. Und wir brauchen das genaue Gegenteil, wir brauchen eine vielfältige Kultur. In einer solchen Kultur gerät man auch einmal aneinander und streitet sich darüber, ob etwas nun schön ist oder nicht. Man muss, man soll auch nicht alles schön finden, aber man sollte respektieren, wenn jemand anderes etwas schön findet.

Was würden Sie den Menschen außerhalb des Singens mit auf den Weg geben, um den Umgang miteinander zu verbessern.

Kreutz: Unsere Art zu kommunizieren, ist heutzutage regelrecht gespalten. Wenn ich 20 oder 30 Jahre zurückblicke, dann hätte ich mir nie vorstellen können, wie die Menschen heute miteinander umgehen. Klar, es gab immer polternde Politiker – aber wie schlimm es heute oft zugeht, das kann ich kaum glauben. Ich weiß zwar nicht, wie wir hier hingekommen sind, aber ich weiß, dass in unserer Gesellschaft einiges falsch läuft. Diese Probleme sind schwierig zu lösen, da sie atmosphärisch sind – das heißt, man kann oft keinen konkreten Punkt nennen, an dem man den Hebel ansetzen müsste. Aber für mich fängt die Lösung dieser Probleme schon bei einigen Selbstverständlichkeiten an. Dass man sich zum Beispiel gegenseitig hilft, oder dass man offen und ehrlich miteinander umgeht. Wenn wir zumindest wieder dorthin kämen, dann würde das der Gesellschaft schon gut tun. Dann könnte man sich auch an fremden Orten heimisch fühlen.

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