Brotdorf Kampf für mehr Mitbestimmung in der Schule

Merzig · Die 27-jährige Lena Kraus aus Brotdorf macht sich auf der ganzen Welt für das Konzept der Demokratischen Bildung stark.

 Auch dafür blieb während des mehrmonatigen Aufenthalts am Kap der Guten Hoffnung Gelegenheit: Die passionierte Kanutin Lena Kraus (links) und Thembinkosi Ngcobo vor dem Paddelrennen „Alan Gardiner Memorial Race“ im sogenannten Tausend-Hügel-Tal in der Provinz Kwazulu Natal in Südafrika.

Auch dafür blieb während des mehrmonatigen Aufenthalts am Kap der Guten Hoffnung Gelegenheit: Die passionierte Kanutin Lena Kraus (links) und Thembinkosi Ngcobo vor dem Paddelrennen „Alan Gardiner Memorial Race“ im sogenannten Tausend-Hügel-Tal in der Provinz Kwazulu Natal in Südafrika.

Foto: Kim Pople

In einer Demokratie hat das Volk die Macht. Mit seiner Wahlstimme drückt das Volk seine Wünsche aus, zeigt, welche Anliegen ihm wichtig sind und welche Ideen es unterstützt. Eines wird dabei jedoch vergessen: An der Wahl dürfen keine Jugendlichen teilnehmen. Drückt ein Volk, das Menschen von der Wahl ausschließt, überhaupt den Willen des Volkes repräsentativ aus? Ist das noch demokratisch?

Denn es geht auch anders: In demokratischen Schulen sind Erwachsene und Jugendliche gleichberechtigt. Für mehr Demokratische Bildung in Europa setzen sich Lena Kraus und die European Democratic Education Community (EUDEC) ein. Die 27-Jährige kommt aus Brotdorf und engagiert sich seit 2012 in der EUDEC. Was dahinter steckt? „Demokratische Bildung stützt sich auf zwei Säulen: selbstbestimmtes Lernen und gemeinsame Entscheidungsfindung. Selbstbestimmtes Lernen wird an Demokratischen Schulen uneingeschränkt gelebt, die Kinder entscheiden selbst, was sie lernen möchten. Die Erwachsenen unterstützen sie nach Möglichkeit dabei. Es gibt keine Hausaufgaben, keine Alterstrennung, keine Noten, keinen verpflichtenden Stundenplan“, erzählt Kraus. „Die zweite Säule, die gemeinsame Entscheidungsfindung, ist namensgebend für die Schulform: In einer wöchentlich stattfindenden Schulversammlung wird alles, was die Schulgemeinschaft betrifft, gemeinsam demokratisch entschieden.“ Dabei muss klar sein: „Demokratische Bildung bedeutet nicht, dass man einfach macht, was man will. Es gibt klare Regeln für das Zusammenleben, die alle gemeinsam beschlossen haben, und Konsequenzen für Regelverstöße. Kinder entscheiden sich bewusst für Ziele und finden heraus, was sie lernen müssen, um diese zu erreichen“, sagt Kraus. Sie weiß: „Die Selbstbestimmung führt dazu, dass die jungen Menschen sich bewusst dazu entscheiden, was sie lernen möchten und warum. Diese bewusste Entscheidung macht den Unterschied.“

Wieso ihr das wichtig ist? Zunächst, weil sie in ihrer eigenen Schulzeit unzufrieden war. „Ich fand, dass im Schulsystem einiges schiefläuft und habe mich oft nicht als Mensch ernst genommen gefühlt. Es fehlte die grundlegende Wertschätzung. Ich wurde sogar mal in Englisch dafür kritisiert, dass ich Shakespeare gelesen habe, weil das noch nicht im Lehrplan stand. Das finde ich immer noch total verrückt“, schildert sie. Ihr fehlt die Chance im geschützten Raum, wie der Schule, die Konsequenzen des eigenen Handelns kennenzulernen. „Ein Beispiel: die Wahl der Klassensprecher. Je echter dieses Amt ist, das heißt, je mehr die gewählten Personen wirklich die Möglichkeit haben, sich bei der Gestaltung des Schulalltags einzubringen, desto genauer werden die Schüler sich überlegen, wen sie wählen. Wenn das Amt ohnehin nur wenig bedeutet, entscheidet die Beliebtheit der Personen. Gewählt wird, wer die coolsten Schuhe oder die meisten Freunde hat“, sagt Kraus. Diese Erfahrung habe Einfluss auf das weitere Leben und darauf, wie Politik und Demokratie gelebt werden, wie sie weiß. „Um die Bedeutung der Demokratie wirklich kennenzulernen, muss diese echt sein.“

Inspiriert durch ihre Unzufriedenheit suchte sie nach Alternativen. Dabei fiel ihr das Buch „Summerhill“ von A.S. Neill in die Hände. Der Inhalt sprach sie an, zeitgleich „klang alles abgehoben und zu schön, um wahr zu sein“, fand sie damals, wurde aber schnell vom Gegenteil überzeugt: Summerhill ist die älteste Demokratische Schule der Welt, gegründet von A.S. Neill, und liegt im englischen Leiston. Während ihres ersten Auslandsaufenthaltes 2011 in England schnupperte Kraus einen Tag in den Schulalltag. Dort erfuhr sie auch von der EUDEC-Konferenz, die 2012 erstmalig in Freiburg stattfand. „Der Umgangston und die Gespräche auf der Konferenz überzeugten mich, Mitglied in der EUDEC zu werden. Die Art, wie auch Kinder mit eingebunden waren, auf Augenhöhe mit den Erwachsenen reflektierte Meinungen präsentierten, wie viel Verantwortung sie auch bei der Organisation der Konferenz hatten, hat mich begeistert“, sagt Kraus und bekräftigt: „Wenn Kinder wirklich Verantwortung übernehmen dürfen, können sie das in der Regel sehr gut und gehen sorgsam damit um. Sie spüren, was sie alleine können und wozu sie sich Hilfe holen sollten – und wissen, wie und wo sie danach fragen können.“

Seitdem hat sie keine Konferenz mehr ausgelassen. 2015 kandidierte sie erstmals für den Vorstand, in den sie für zwei Jahre gewählt wurde. 2017 kandidierte sie erneut und wurde erste Vorsitzende. Zusammen mit den anderen Mitgliedern setzt sich Kraus dafür ein, dass Demokratische Schulen besser anerkannt werden. „In Deutschland gibt es 15 erfolgreich funktionierende Demokratische Schulen, die älteste schon seit 1987. Trotzdem sind sie immer wieder von der Schließung bedroht, so wie zuletzt die Sudburyschule Ammersee. Das liegt unter anderem daran, dass diese Schulform noch so unbekannt ist“, sagt Kraus. Für sie liegt die Problematik auf der Hand: „Immer, wenn Alternativen angeboten werden, bedeutet das auch, dass man sich mit dem aktuellen System kritisch auseinandersetzen muss. Das ist unbequem. Viele haben während ihrer Schulzeit verinnerlicht, dass das eben so ist“, erläutert Kraus. „Unsere Aufgabe als EUDEC ist, Netzwerke zu schaffen, sodass nicht jede Gründungsinitiative wieder bei null anfangen muss und die einzelnen Schulen von den Erfahrungen und Erfolgen der anderen profitieren können.“ Hierbei tue sich inzwischen etwas in Deutschland, es gründen sich Untergruppen der EUDEC. Darin sieht Kraus eine Chance auf Veränderung: „Für demokratische Gesellschaften sind Demokratische Schulen einfach eine sinnvolle Lösung.“

Im Oktober 2018 reiste die Übersetzerin nach Südafrika, um an einer Konferenz teilzunehmen, die sich mit verschiedenen Facetten des Leistungsprinzips auseinandersetzte. Im Vorfeld untersuchte sie die Leistungsvorstellungen von Menschen mit Affinität zur Demokratischen Bildung und referierte darüber gemeinsam mit zahlreichen weiteren Teilnehmern und Teilnehmerinnen. Bei ihrer Analyse wurde klar, dass traditionelle Leistungssymbole wie Medaillen, Noten oder Gehaltserhöhungen unter den Befragten nicht genannt wurden. Es zählte vor allem, wie sinnvoll die Befragten selbst die jeweilige Tätigkeit bewerteten. Neben der Konferenz besuchte die Brotdorferin die Encotsheni Grundschule in Kayelitsha, einem der größten Townships in Südafrika. Die Armut dort ist gravierend, die Kriminalitätsrate hoch. Die Schule ist von einem Stacheldrahtzaun umgeben und durch ein schweres Tor gesichert. „Es geht da um Dinge wie fehlende Schuhe und Materialien oder weite Schulwege, bei denen ein Bus die Kinder zumindest eine Teilstrecke befördern muss. Auch eine Mahlzeit bekommen die Kinder an der Schule, da sie ansonsten oft mit leerem Magen lernen. Die gelebte Demokratie rückt da erst mal in den Hintergrund“, erzählt Kraus. Zunächst war es schwierig, Gemeinsamkeiten untereinander zu finden, doch letztlich gehe es um das Wesentliche: „die Überzeugung, dass Kinder die Zukunft sind, würdige Menschen, die das Recht auf sichere Räume, den Zugang zu guter Bildung und eine Kindheit ohne Angst haben“. Europäische Bildungssysteme müssen zwar verbessert werden, uns müsse aber klar sein, „wie privilegiert unsere Ausgangsposition ist“. Alternative Bildungswege werden in Südafrika als Möglichkeit zur Dekolonisation gesehen. „Es hat mich schockiert, wie stark die Auswirkungen der Rassentrennung nach wie vor das alltägliche Leben bestimmen“, sagt Kraus. Wie wir helfen können? Aufhören, helfen zu wollen und anfangen, ernstzunehmen. „Häufig ist das Bild, dass wir von Afrika haben, sehr einseitig und schlichtweg veraltet. Das trägt stark dazu bei, dass afrikanische Länder von europäischen Investoren nicht als Markt ernst genommen werden.“

 Am Stellenbosch Institute for Advanced Study (stias) der Universität Stellenbosch (Südafrika) hielt Lena Kraus  im Rahmen der Konferenz „Narratives of Achievement in African and Afroeuropean Contexts, Point Sud“ einen Vortrag über Demokratische Bildung.

Am Stellenbosch Institute for Advanced Study (stias) der Universität Stellenbosch (Südafrika) hielt Lena Kraus  im Rahmen der Konferenz „Narratives of Achievement in African and Afroeuropean Contexts, Point Sud“ einen Vortrag über Demokratische Bildung.

Foto: Cezara Nicola
 Ihr Engagement führt Lena Kraus (achte von rechts) auch nach Südafrika. Hier ist sie unter den Teilnehmer eines Workshops am Stellenbosch Institute of Advanced Studies der Universität Stellenbosch.

Ihr Engagement führt Lena Kraus (achte von rechts) auch nach Südafrika. Hier ist sie unter den Teilnehmer eines Workshops am Stellenbosch Institute of Advanced Studies der Universität Stellenbosch.

Foto: Cezara Nicola
 Die Encontsheni Grundschule besuchte Lena kraus, um sich ein Bild von den Verhältnissen vor Ort zu machen.

Die Encontsheni Grundschule besuchte Lena kraus, um sich ein Bild von den Verhältnissen vor Ort zu machen.

Foto: Lena Kraus
 Der Innenhof der Encontsheni Grundschule im südafrikanischen Township Kayelitsha.

Der Innenhof der Encontsheni Grundschule im südafrikanischen Township Kayelitsha.

Foto: Lena Kraus

Seit Dezember 2018 ist Kraus wieder in Deutschland, derzeit bereitet sie sich auf die nächste Konferenz der EUDEC im Sommer in der Ukraine vor. Die direkte Demokratie in der Organisation birgt auch Schwierigkeiten, wie Kraus weiß: „Es kann sehr anstrengend sein, wenn alle mitreden können“, sagt sie. „Neue Mitglieder können Dinge vorschlagen, von denen erfahrenere Mitglieder schon zu wissen glauben, dass sie nicht funktionieren. Hier gilt es offenzubleiben, wirklich zuzuhören“, fügt sie an. Ihre Motivation für Engagement? „Ich sehe in meinen beiden ehrenamtlichen Hauptprojekten, der EUDEC und parkrun, das Potenzial, Menschen glücklicher zu machen. Je zufriedener Menschen sind, desto konstruktiver können zum Beispiel Konflikte ausgetragen werden. Sowohl in der Demokratischen Bildung als auch bei parkrun geht es ums Miteinander und wie dieses gestaltet wird. Wer glücklich ist, hat es zum Beispiel nicht nötig, anderen Menschen zu schaden oder diese zu unterdrücken oder auszugrenzen.“

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