Es passierte direkt vor der Haustür"Menschen gehen mit dem Thema viel offener um"
Merzig. Wer sich mit dem Thema der Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten auseinandersetzt, läuft Gefahr, an den Fakten zu zerbrechen. Dennoch hat sich der Losheimer Henry Selzer daran gemacht, den Wegen jüdischer Familien aus Losheim zu folgen
Merzig. Wer sich mit dem Thema der Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten auseinandersetzt, läuft Gefahr, an den Fakten zu zerbrechen. Dennoch hat sich der Losheimer Henry Selzer daran gemacht, den Wegen jüdischer Familien aus Losheim zu folgen. Es war belastend, aber: "Mir hat die positive Art der Enkel aus den Familien geholfen, die deprimierenden Inhalte zu verarbeiten", erzählt der Autor von seinen Erfahrungen. Was sein "alternatives Heimatbuch", wie er es nennt, von anderen Büchern zum Thema Judenverfolgung unterscheidet, erklärt SZ-Redakteur Wolf Porz so: "Die Szenen, wie wir sie in diesem Buch lesen können, sind bekannt. Was die Geschichte aber so erschütternd macht, ist, dass es Menschen aus Losheim sind, die diesen Gräueltaten zum Opfer fielen."Es passierte direkt vor der Haustür. Viele Losheimer waren Zeugen, als die Juden ihr Hab und Gut für wenig Geld verkaufen mussten. Kinder sahen dabei zu, wie sie abgeholt wurden. Und die Juden kamen nicht wieder. Wussten Dorfbewohner, welches Schicksal den Familien bevorstand? Warum haben sie nichts unternommen? Fragen, die nicht ohne weiteres zu beantworten sind. "Vielleicht waren die Dimensionen nicht bekannt. Aber wenn man es nur hätte wissen wollen, hätte man es erfahren", ist sich Henry Selzer sicher. Gesellschaftlicher DruckEs habe indes einen hohen gesellschaftlichen Druck gegeben, den Mund zu halten. "Es ist sowohl wahr als auch eine Schutzbehauptung, dass die Leute sagen, sie wüssten nicht, was passiert. Manche wussten es wirklich nicht, manche wollten es nicht wissen", glaubt Selzer nach seinen Recherchen. Man solle sich heute aber davor hüten, ein vorschnelles Urteil zu fällen. Niemand könne sagen, wie wir in solchen Situation reagiert hätten. Die Familien Hanau und Herrmann wohnten in den zwanziger Jahren in Losheim. Wie es Bildern aus dieser Zeit zu entnehmen ist, waren sie ein gern gesehener Teil der Gesellschaft. Als Händler waren sie bekannt. Doch obwohl sie sich auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten sicher fühlten, mussten sie ihr Hab und Gut verkaufen und schließlich entweder fliehen oder sie wurden auf Befehl der Nazis deportiert. Die Schicksale der Familien Hanau und Herrmann während dieser Zeit verliefen unterschiedlich. So auch das Schicksal ihrer Kinder. Mit einigen konnte Henry Selzer zur Recherche seines Buches Kontakt aufnehmen. "Ich habe mich den Nachkommen sehr vorsichtig genähert. Es hat gedauert, bis sich Vertrauen aufgebaut hat", berichtet der Autor von den Anfängen seiner Arbeit. Ihnen ist ein nicht unwesentlicher Teil des Buches gewidmet. ErinnerungsfetzenDie Nachfahren der jüdischen Familien aus Losheim sind dankbar dafür, dass die Geschichte ihrer Verwandten erzählt wird. Auch die Losheimer stellten Henry Selzer viele Fragen, die zu beantworten dafür sorgten, dass sich einige Erinnerungsfetzen von Zeitzeugen wieder zusammensetzten. "Unrecht auf dem Land - die Geschichte der Losheimer Juden" ist ein Blick auf die Opfer, ein Blick auf erschütternde Schicksale, den Henry Selzer seinen Lesern ermöglicht. Außen vor lässt er dabei die Nennung der Täter. Möglich wäre es, denn die Akten und Unterlagen sind heute jedem zugänglich, die Namen sind dort zu finden. "Ich kannte viele der Täter. Doch es war mir bis zur Recherche nicht klar, was sie getan haben", erzählt Henry Selzer. Doch es sei weder für das Buch, noch für das, was geschehen ist sinnvoll die Namen zu nennen. Er wolle aufklären, nicht abrechnen.Das Buch "Unrecht auf dem Land - die Geschichte der Losheimer Juden" ist in den Buchhandlungen in Losheim, Wadern und Merzig sowie beim Heimatverein erhältlich.Losheim. Wie kam es zu diesem "alternativen Heimatbuch"? Henry Selzer begann bereits vor etwa 20 Jahren damit, sich mehr und mehr in die Thematik einzuarbeiten. Angeregt von den Forschungen seines ehemaligen Lehrers Dr. Wilhelm Laubenthal versuchte er an diese anzuknüpfen. Daraus entstand ein dreiteiliger Artikel in der Saarbrücker Zeitung. Doch: "Es war damals sehr viel schwieriger, Informationen zu bekommen. Eine Einsicht in Akten oder Unterlagen war noch nicht möglich, und generell gingen die Leute noch nicht offen mit dem Thema um", erinnert sich Selzer. Dies habe sich aber extrem verändert. Viel Unterstützung Die Akten und Unterlagen sind nun jedermann auf Antrag zugänglich. "Und die Menschen gehen viel offener damit um", hat der Autor während der Recherchen erfahren. Bereits für die Verlegung der "Stolpersteine" in Losheim bekam er viel Unterstützung, viele Menschen kamen danach auf ihn zu. Die Stolpersteine sind Gedenksteine, die in den Bürgersteig vor den ehemaligen Häusern der Losheimer Juden eingelassen sind. Im weiteren Verlauf hat er im Dorf viel gefragt und nachgeforscht, bis sich das Puzzle der Geschichte nach und nach zusammensetzte. Erinnerungen, Fotos bis hin zu den Prozessakten hat er gesichtet und ausgewertet. So konnte er die unterschiedlichen Wege der Familien und deren Nachfahren verfolgen.