Merziger Arzt im Interview „ALS ist prinzipiell nicht heilbar“

Chefarzt der Neurologie am Merziger SHG-Klinikum erklärt im Interview, wen die Krankheit ALS treffen kann und wie sie sich darstellt.

 Der Chefarzt der Neurologie am SHG-Klinikum Merzig, Professor Matthias Strittmatter

Der Chefarzt der Neurologie am SHG-Klinikum Merzig, Professor Matthias Strittmatter

Foto: Gundelwein/GUNDELWEIN

Kann die Krankheit jeden treffen?

STRITTMATTER Prinzipiell ja. Aber unter den neurodegenerativen Erkrankungen gehört sie zu den sehr seltenen Krankheitsbildern. Pro Jahr erkranken etwa zwei von 100 000 Menschen an ALS. Die Zahl der Neuerkrankungen an ALS ist in Europa höher als in anderen Teilen der Welt.

Wie wird eine ALS diagnostiziert?

STRITTMATTER Die Diagnose einer ALS ist im Frühstadium oft schwer zu stellen. Eine Reihe von anderen möglichen Diagnosen muss sorgfältig ausgeschlossen werden, ehe diese schwerwiegende Diagnose, oftmals erst im Verlauf, gestellt werden kann. Dazu gehören neben der Krankengeschichte eine gründliche körperlich-neurologische Untersuchung und eine Reihe von apparativen Zusatzuntersuchen. Um die wichtigsten zu nennen: Elektromyographie und -neurographie (Aufzeichnung der elektrischen Muskel- und Nervenaktivität), bildgebende Verfahren (Kernspintomogramm von Gehirn und Rückenmark), diverse Blutuntersuchungen und ein Test der Lungenfunktion.

Was bedeutet diese Diagnose für die behandelnden Ärzte?

STRITTMATTER Die ALS ist eine Erkrankung, die bei Diagnosestellung immer auch eine große Betroffenheit bei den behandelnden Ärzten auslöst, weil wir eben nur sehr begrenzt helfen können. Dies, obwohl wir zahlreiche Möglichkeiten haben, das Leid dieser Patienten erträglicher zu gestalten und die Lebensqualität mit hohem Aufwand verbessern können. Ganz besonders bedrückend für Patient und Behandler ist zunächst die Tatsache, dass der Patient seinen chronischen Verlust an Fähigkeiten ganz bewusst und bei vollem Verstand erlebt. Gerade hier liegt aber auch die immense Chance, über eine tragfähige Beziehung einen würdevollen Umgang mit dieser Herausforderung zu finden. Eine frühzeitige und offene Einbeziehung der nächsten Angehörigen ist von immenser Bedeutung, gerade vor dem Hintergrund lebensentscheidender Wege, für die sich entschieden werden muss.

Kann ALS auch vererbt werden?

STRITTMATTER Ja, aber sehr selten. Man beobachtet zwar eine Häufung in vorbelasteten Familien, dennoch tritt der überwiegende Teil der Krankheitsfälle spontan auf. Bei jedem hundersten ALS-Kranken besteht eine vererbte oder neu aufgetretene Mutation in einem bestimmten Gen, das für den Zellstoffwechsel von Bedeutung ist.

Was führt zum Absterben der Nervenzellen?

STRITTMATTER Als Nervenkrankheit ist die ALS schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt, allerdings sind die Ursachen bis heute trotz intensiver wissenschaftlicher Anstrengungen nur in Ansätzen verstanden. Eine Teilerklärung liegt in der Störung eines Enzyms, das schädigende freie Sauerstoffradikale in der Zelle abfängt. Fällt dieses Enzym bei der ALS aus, können diese Radikale Nervenzellen schwer schädigen. Dadurch wird die Übermitttlung der Befehle an die Muskeln gestört – die Folge sind Muskelschwäche und schließlich komplette Lähmungen, zuletzt auch der Atemmuskulatur.

Gibt es Möglichkeiten, durch Medikamente die Krankheit aufzuhalten?

STRITTMATTER Die ALS ist prinzipiell nicht heilbar. Als einzige empfohlene medikamentöse Therapie ist derzeit der Wirkstoff Riluzol verfügbar. Er erlaubt zwar keine Heilung, kann aber die Nervenzellen vor weiteren Schäden schützen, indem der Wirkstoff den Botenstoff Glutamat im Gehirn hemmt. Riluzol ist damit als Medikament zu verstehen, das den Krankheitsverlauf lediglich verzögert. Je früher die Therapie beginnt, desto stärker vermindert es die Symptome der ALS. Lebenserwartung und Lebensqualität steigen. Weitere Wirkstoffe werden derzeit klinisch geprüft und bei Erfolg in den nächsten Jahren vielleicht auch zugelassen.

Warum verläuft ALS oft nach einer Diagnose innerhalb kürzester Zeit tödlich?

STRITTMATTER Limitierend sind oft zwei Gründe: Zum einen kommt es infolge der Lähmung der Schluckmuskulatur gehäuft zum Verschlucken von Nahrung in die Lunge, was eine schwere Lungenentzündung auslösen kann. Zum anderen wird die Atemmuskulatur selbst betroffen, was die Atmung erheblich einschränkt und erschwert. Dies führt über die mangelnde Deckung des Sauerstoffbedarfs des Körpers letztlich zum Tod.

Der britische Astrophysiker Stephen Hawking zählt zu den weltweit bekanntesten ALS-Patienten. Er erhielt die Diagnose, als er 21 Jahre alt war, und ist mit 76 Jahren verstorben. Galt er als Ausnahme unter den Betroffenen?

STRITTMATTER Ja, in den meisten Fällen trifft die ALS Menschen zwischen 45 bis 65 Jahren. Seltener trifft es auch jüngere Menschen. In der Altersgruppe über 70 Jahren wird sie extrem selten.

Welche Therapien wurden bei ihm angewendet?

  Astrophysiker Stephen Hawking war an ALS erkrankt.

Astrophysiker Stephen Hawking war an ALS erkrankt.

Foto: dpa/Facundo Arrizabalaga

STRITTMATTER Stephen Hawking hat sich zu einer Heimbeatmung entschlossen, was ihm letztlich bei annähernd kompletter Lähmung seines ganzen Körpers ein langes Überleben gesichert hat. Bemerkenswert dabei ist, dass die geistige Leistungsfähigkeit bei der ALS in den allermeisten Fällen erhalten bleibt. Das gilt auch für die Wahrnehmung unserer Sinneseindrücke. Die Fähigkeit, Musik hören, zu lesen und zur Kommunikation – auch über zum Beispiel PC-gesteuerte Hilfsmittel – bleiben erhalten und haben trotz der schwersten körperlichen Beeinträchtigung eine hohe Lebensqualität.

Wie verkraften Patienten die Diagnose, die das Todesurteil bedeutet?

STRITTMATTER Sehr unterschiedlich, und die Krankheitsverarbeitung auch im Verlauf ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Von entscheidender Bedeutung ist von Anfang an ein gutes Vertrauensverhältnis zu behandelnden Ärzten und Therapeuten. Eine entscheidende Bedeutung kommt ebenso einer psychologischen Mitbetreuung zu. Dies gilt im Übrigen nicht nur für den Patienten, sondern auch für die betroffenen Angehörigen. Gemeinsam muss man zum Beispiel die wegweisende Frage beantworten, ob ein Leben mit der Heimbeatmung gewünscht wird oder nicht.

Gibt es Therapien in der Psychologie, die die vielfältigen Belastungen von Betroffenen, wie beispielsweise Ängste und Ungewissheit mindern?

STRITTMATTER Das Ziel jeder Behandlung der ALS-Krankheit ist, Betroffenen ein möglichst langes, unabhängiges und beschwerdearmes Leben zu ermöglichen. Die beste Betreuung erfahren Patienten in einer Klinik, die zur Behandlung ein interdisziplinäres Team zur Verfügung hat. Dazu gehören neben Neurologen auch Magen-Darm-Spezialisten (zum Beispiel Ernährungssonde), Lungenfachärzte (Linderung der Atemnot), Sprechtherapeuten (Sprachstörung und Schluckstörung), Psychologen, Physio- und Ergotherapeuten und Ernährungsberater.