Der Reichsnationalismus greift langsam um sich

Merzig · Kein Thema bewegt in diesen Tagen die Gemüter im Land so sehr wie die durch die Flüchtlingskrise bedingte Masseneinwanderung nach Deutschland. In diesem Beitrag soll die Zuwanderung in die Merziger Region während der letzten 200 Jahre als eine Geschichte der auf vielfache Weise stattgefundenen Begegnung mit dem Fremden dargestellt werden.

Dies kommt weiterhin in dem Artikel der Merziger Zeitung vom 7. August 1892 zum Ausdruck: "Brotdorf, 4. August - Ein beredtes Zeichen von Toleranz, Einigkeit und wirklicher Nächstenliebe in unserem Ort bot das Begräbnis des allgemein geachteten und beliebten Einwohners, Herrn Isaac Samuel. Fast die ganze Einwohnerschaft, ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses, folgte dem Sarg bis weit aus dem Dorfe nach Merzig zu, allwo die Gebeine unserer israelitischen Einwohnerschaft ihre Friedensstätte haben. Unser Kriegerverein, beseelt von dem erhabenen Gefühle, dass die Kameradschaft bis über das Grab hinaus gehe, gab seinem verstorbenen Mitglied in vollzähliger Stärke das Geleite; an der Spitze wehte die trauerumflorte Vereinsfahne; Böllerschüsse donnerten ins Tal hinein. Die Mannschaften folgten dem Leichenzuge bis auf den Friedhof zu Merzig und entfernten sich erst als das Grab sich über dem treuen Kameraden, der jetzt zur großen Armee übergesiedelt ist, für immer geschlossen hatte."

Auch der nachfolgende Artikel der Merziger Zeitung 20. November 1904 vermittelt den Eindruck, dass die jüdischen Mitbürger mittlerweile in gewisser Weise als angesehene und vor allem auch akzeptierte Mitbürger betrachtet wurden.

So heißt es dort nämlich: "Herr Rentner Moses Weil (Dienstagsmarkt), einer der ältesten und geachtesten Bürger unserer Kreisstadt, ist gestern in die Ewigkeit abgerufen worden. Die seelische Empfindung über den kürzlichen Verlust seiner geliebten Gattin, mit welcher er viele lange Jahre Leid und Freud geteilt hat, hat den alten Herrn aufs Sterbelager gebracht. Sein Tod erfolgte rasch, aber äußerst sanft, und der Sterbende konnte bei klarem Verstande von den um ihn versammelten Kindern und Enkeln Abschied nehmen auf ewig. Das nun in Gott ruhende Ehepaar Weil feierte im Jahr 1895 seine Goldene Hochzeit, wobei ihm durch den Herrn Landrat die Goldene Ehejubiläumsmedaille überreicht wurde. Im Juni nächsten Jahres sollte das noch seltenere Fest der Diamantenen Hochzeit gefeiert werden. Gott hat es anders gewollt. Die Beerdigung des Entschlafenen findet morgen Nachmittag statt. Er ruhe in ewigem Frieden!"
Antisemintistische Bestrebungen

Die Entwicklung eines nationalistischen Denkens in weiten Kreisen setzte in Deutschland verstärkt nach der Reichsgründung von 1871 ein. Gerade diese hatte dem nationalen Gedanken mächtig Auftrieb verliehen, denn mit ihr war das vordringliche Ziel der Nationalbewegung erreicht. Der Nationalstaat war keine Zukunftsvision mehr, er bildete vielmehr den realen politischen Rahmen, innerhalb dessen sich die kleindeutsche Reichsnation zu formieren begann. In diesem politischen Rahmen entwickelte sich eine reaktionäre, staatskonforme Integrationsideologie, die "Nation" und "Reich" als Einheit betrachtete, also mit der herrschenden politischen und sozialen Ordnung identifizierte.

Dieser sich immer stärker entwickelnde Reichsnationalismus entfaltete und gewann eine zunehmend aggressive Dynamik: Wer der Bismarckschen Form der Reichsgründung nicht bedingungslos zustimmte, der geriet rasch in den Geruch des "Reichsfeindes".

Der Bannstrahl traf zunächst die Katholiken, später vor allem die Sozialdemokraten, und in zunehmendem Maße auch die Angehörigen nationaler Minderheiten und die Bürger jüdischer Herkunft und jüdischen Glaubens, denen die Zugehörigkeit zur deutschen Volksnation von vielen abgesprochen wurde.

Es bleibt daher festzuhalten, dass die ethnische Verengung des Begriffs der Nation, der anders als in Frankreich nicht von der Staatsbürgerschaft, sondern von der Idee einer homogenen, durch das Blut definierten Gemeinschaft ausging, entsprechende Tendenzen zur Ausgrenzung des angeblich "Fremden" im Deutschland jener Zeit entscheidend gefördert hat.
Arbeiter pöbeln Juden an

Im Hinblick auf die vorstehend aufgezeigte Entwicklung schreibt Wilhelm Laubenthal, dass sich seit etwa 1880 antisemitische Bewegungen bemühten, ihre Ideen in ganz Deutschland durch Bücher, Schriften und Aufrufe zu verbreiten. Deshalb dürfe man nicht die Augen davor verschließen, dass auch in der Merziger Region antijüdische Parolen einsickerten, die nicht immer wirkungslos blieben.

So musste Villeroy & Boch 1884 einige Arbeiter der Firma zurechtweisen, weil sie an der Betriebsstätte vorbei gehende Juden angepöbelt hatten. 1890 wurden wiederholt Fensterscheiben der Synagoge eingeworfen.

< Wird fortgesetzt.

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