An der Front macht sich Ernüchterung breit

Merzig · Wenn man das Stimmungsbild Anfang 1915 nachzeichnen will, muss man sich immer vor Augen halten, dass die Presse natürlich versuchte, in der Tendenz propagandistisch auf die Bevölkerung einzuwirken. Die Menschen in der Heimat sahen sich zwischenzeitlich doch zunehmend mit auftretenden Mängeln hinsichtlich der Versorgungslage, der Unmenge der zwischenzeitlich Gefallenen sowie der mehr und mehr in der Öffentlichkeit sichtbar werdenden Kriegsversehrten und ihrer Probleme konfrontiert. Stellungskrieg verändert vieles

Wenn man das Stimmungsbild Anfang 1915 nachzeichnen will, muss man sich immer vor Augen halten, dass die Presse natürlich versuchte, in der Tendenz propagandistisch auf die Bevölkerung einzuwirken. Die Menschen in der Heimat sahen sich zwischenzeitlich doch zunehmend mit auftretenden Mängeln hinsichtlich der Versorgungslage, der Unmenge der zwischenzeitlich Gefallenen sowie der mehr und mehr in der Öffentlichkeit sichtbar werdenden Kriegsversehrten und ihrer Probleme konfrontiert.
Stellungskrieg verändert vieles



In den vorstehend beschriebenen Winterschlachten im Artois und in der Champagne beziehungsweise in Lothringen lernten beide Seiten, worauf es in den nächsten Jahren bei Offensiven und im Stellungskrieg ankam: Die Deutschen verbesserten ihr Grabensystem und entwickelten neue Taktiken der Verteidigung, während die Franzosen an einer besseren Koordination zwischen angreifender Infanterie und unterstützender Artillerie arbeiteten. In der entscheidenden Frage lernten die Franzosen allerdings nur wenig: Der Fehlschlag der französischen Offensiven hätte ihnen verdeutlichen müssen, dass Frontalangriffe auf gut ausgebaute Stellungssysteme ungeheure Verluste mit sich brachten, ein strategischer Durchbruch aber eigentlich unmöglich war. Da ein Angriff selbst im Fall eines Durchbruchs nicht schnell genug an Tiefe gewann, konnten die Verteidiger die Einbruchstelle abriegeln und die in die Front geschlagene Lücke wieder schließen. So kam es, dass in den kommenden Jahren unter furchtbaren Verlusten um jeden Quadratmeter Boden gekämpft wurde.
Chance für Diplomatie

Im Prinzip wäre die Zeit um den Jahreswechsel 1914/15 ein geeigneter Zeitpunkt für die Diplomaten gewesen, die Fühler auszustrecken und nach Möglichkeiten zur Beendigung der Kampfhandlungen zu suchen. Die zurück liegenden Kriegsmonate hätten dann nach Ansicht vieler Historiker zwar einen furchtbaren Einschnitt in der europäischen Geschichte dargestellt, aber die sozialen und politischen Folgen wären reversibel gewesen. Die Wirtschaft war gerade erst im Begriff auf die Erfordernisse eines langen Krieges umgestellt zu werden und die von ihm verursachten gesellschaftlichen Verwerfungen hätten sich nach einiger Zeit wieder ausgleichen lassen. Auch die "Radikalisierung der Kriegführung" hatte zwar bereits eingesetzt, war aber noch nicht soweit fortgeschritten, als dass sie nicht hätte aufgehalten werden können.
Defensive Strategie

Doch ging der Krieg weiter, wenngleich zunächst mit vermindertem Einsatz. Auch wenn sich das im Nachhinein anders ausnimmt, so war der Stellungskrieg vor dem Hintergrund des Bewegungskrieges anfänglich gerade das Ergebnis eben dieser Einsatzminderung, gleichsam ein Erschöpfungssymptom also, das jedoch nicht als solches erkannt und begriffen werden durfte. Denn erst der Übergang zum Stellungskrieg im Westen ermöglichte es, den Krieg überhaupt weiter zu führen. Tatsächlich sanken die Verluste nun zunächst deutlich, um wieder zu steigen, wenn eine der beiden Seiten in die Offensive ging. In der Regel waren dabei die Verluste des Angreifers doppelt so hoch wie die des Verteidigers; unter ungünstigen Bedingungen konnten sie aber auch auf das Fünffache hochschnellen.

Der vor allem durch die hohen Verluste bereits beschriebene erzwungene Übergang zu einer defensiven Strategie führte allerdings zu einer paradoxen Entwicklung. Aufgrund der Befestigung der Stellungen waren nun sehr viel weniger Soldaten erforderlich, um einen Frontabschnitt zu verteidigen. Es ließen sich von dort somit Truppen herausziehen, mit denen man neue Einheiten schaffen konnte, die wiederum andernorts für Offensiven zur Verfügung standen. Auf deutscher Seite entschloss man sich obendrein, die Zahl der zur Verteidigung eines Frontabschnitts benötigten Soldaten zu verringern, indem man die Feuerkraft der jeweiligen Einheiten erhöhte. So konnte man eine Division von bisher vier auf drei Regimenter verkleinern und verstärkte sie gleichzeitig, indem man ihnen mehrere Maschinengewehrzüge hinzufügte.
Wechsel in der Heeresleitung

Die Frage war, wo die neu aufgestellten Divisionen eingesetzt werden sollten. Da die Kräfte der Mittelmächte trotz erhöhter Feuerkraft weiterhin nicht ausreichten, um im Westen und im Osten durch Offensiven das Heft des Handelns in die Hand zu bekommen, musste die deutsche Oberste Heeresleitung unter Generalstabschef Erich von Falkenhayn entscheiden, ob man den militärischen Schwerpunkt im Jahr 1915 an der Ost- oder der Westfront setzen sollte. Falkenhayn hatte Generaloberst Helmuth von Moltke nach der für die Deutschen verlorenen Schlacht an der Marne im September 1914 als Chef der Obersten Heeresleitung abgelöst.
West- und Ostfront im Blick

Falkenhayn selbst präferierte die Entscheidung im Westen, während seine beiden Gegenspieler Hindenburg und Ludendorff, die Befehlshaber an der Ostfront , auf eine Verlegung großer Truppenkontingente in den Osten drängten und einen entscheidenden Sieg über Russland in Aussicht stellten.

Im Ergebnis lief die deutsche Schwerpunktsetzung des Jahres 1915 allerdings auf einen Kompromiss hinaus, der sich zwischen den Vorstellungen Falkenhayns und denen Hindenburgs und Ludendorffs bewegte. Grob umrissen plante man, sich im Westen überwiegend auf die Defensive zu beschränken und neue Taktiken des Abwehrkampfes zu entwickeln, während man im Osten die Initiative ergreifen wollte.

Der Krieg bestimmt auch in der Merziger Region zum Jahreswechsel das Denken und Fühlen der Menschen.

An allen Fronten, nicht nur im Westen, hatte sich zum Ende des Jahres hin Erschöpfung breitgemacht, die Soldaten waren am Ende ihrer physischen Kräfte angelangt. Als sie ins Feld gezogen waren, hatte man ihnen versprochen, sie seien an Weihnachten wieder zuhause - selbstverständlich als Sieger. Daraus war jedoch nichts geworden und es war nicht absehbar, wann dieser Krieg zu Ende sein würde.
Stimmung verschlechtert sich

Auch in der Heimat hatte sich die Stimmung vor allem aufgrund der immer häufiger eintreffenden Gefallenenmeldungen spürbar verschlechtert. Das kriegerische Feuer, um eine Metapher dieser Tage aufzunehmen, glomm nur noch schwach.

Dies kommt auch in dem Bericht der Merziger Zeitung in der Ausgabe vom 2. Januar 1915 zum Ausdruck, wenn es dort heißt: "Die Familienmitglieder und Anverwandten stehen im Felde, im Schlachtengetümmel Aug' in Auge dem Feind gegenüber. Zu lärmender Fröhlichkeit und Trinkgelagen ist es daher nicht gekommen. Man hat vielmehr beim Jahreswechsel der fernen Lieben im Felde gedacht, von Herzen dankbar, für das bisher unter großen Opfern an Gut und Blut Errungene und hoffte mit froher Zuversicht auf einen baldigen glorreichen Sieg. Das war die rechte Silvesterfeier in dieser ernsten Zeit. - Anstatt mit hellem Frost, wie allgemein gehofft wurde, begann das neue Jahr mit warmem Regen. Nebel, Regen und Hochwasser hemmen die Kämpfe und es kann nicht recht vorangehen auf dem Felde der Ehre. - Der ferne Kanonendonner, den wir gestern hörten, rührt von Metz her. Von einem dortigen Fort aus wird hinüber nach der Pont-á-Moussoner Gegend gefeuert. - Über der Festung Metz zeigen sich oft feindliche Flieger, welche Bomben fallen lassen, die bis jetzt aber noch nicht viel Unheil anrichteten. Die Flieger werden lebhaft von uns beschossen, aber es ist eine schwierige Sache, so einen "Vogel" herunter zu holen. Am letzten Mittwoch soll dies nach Aussage eines Augenzeugen doch einmal gelungen sein. - An Silvester, nachmittags zwischen 1.00 und 2.00 Uhr flog ein herrenloser, sich irgendwo losgelöster Fesselballon von Westen nach Nordosten über unsere Stadt. Ein Flieger kam hinter ihm her und wird dafür gesorgt haben, dass der Durchbrenner bald eingefangen wurde."
Weihnachten im Lazarett

In einer früheren Abhandlung über die Kriegsereignisse 1914 hatte der Verfasser bereits über Weihnachtsfeiern in den Kriegslazaretten von Merzig und Beckingen berichtet. Eine solche Weihnachtsfeier fand allerdings auch für die Verwundeten im Mettlacher Lazarett statt, wie dem folgenden Bericht in der Merziger Zeitung vom 2. Januar 1915 entnommen werden kann: "Eine gelungene Feier fand am 1. Januar im hiesigen Krankenhaus statt. Die daselbst untergebrachten Verwundeten hatten, um ihren Dank für die ihnen vor 8 Tagen veranstaltete Weihnachtsfeier Ausdruck zu geben, sich zu dieser Veranstaltung zusammen getan. Nachdem der Lazarettvorsteher, Herr Altmeier aus Lebach, in einer schönen wohl durchdachten Ansprache nochmals den Dank der Verwundeten, besonders der hoch verehrten Familien von Boch, zum Ausdruck gebracht hatte, klang seine Rede in ein von der dicht gedrängten Versammlung begeistert aufgenommenes "Hoch" auf unseren allerhöchsten Kriegsherrn aus. Es folgten nunmehr unter Beihilfe des bekannten Streichorchesters der Fabrikkapelle eine Reihe wohl gelungener Aufführungen seitens der Verwundeten, worunter die Humoreske "Des Rekruten erste Woche" am meisten gefiel. Die Veranstaltung legte Zeugnis dafür ab, welch gutes Einvernehmen zwischen Krankenhaus und Verwundeten herrscht, zeigte aber auch, welcher Geist unter unseren, von den Feinden verschrienen "Barbaren" wohnt, denn wenn diese nach solch schweren Erlebnissen und im kranken Zustand solchen Humor entwickeln, kann es um uns nicht schlecht stehen und unsere Feinde werden uns nicht unterkriegen."

Während sich statt Kriegseuphorie bei den Soldaten an der Front aufgrund des dort Erlebten mehr und mehr Ernüchterung breit machte, galt dies wohl noch nicht in gleichem Maß für diejenigen, die als Ersatz für die vielen Ausfälle nach kurzer Ausbildung an die Front kamen. Jedenfalls kann man dies der folgenden Zeitungsnotiz vom 5. Januar 1915 entnehmen: "Ein Eisenbahnzug mit ungedientem Landsturm im Alter von 27 bis 30 Jahren aus der Eifeler Gegend passierte heute früh singend und scherzend unsere Station."

Weiter berichtete das Merziger Blatt an diesem Tage: "Bei auffallend tiefem Barometerstand fiel in den letzten Tagen sehr viel Regen, nichts als Regen. Die Gewässer sind angeschwollen und es droht Hochwasser. Wie mag es erst in Flandern bei unseren braven Truppen jetzt aussehen! Aber mag kommen, was will: Es wird durchgehalten bis ans siegreiche Ende!"
Hochwasser in Flandern

Die starken Regenfälle hielten noch einige Tage an, wie der Meldung der Merziger Zeitung vom 9. Januar 1915 zu entnehmen ist: "Durch die schweren Regengüsse ist wirkliches Hochwasser entstanden. Die Saar ist über ihre Ufer getreten und hat weite Gebiete überschwemmt. Wie ein großer See sieht sie in dem Wiesental zwischen Beckingen und Rehlingen aus. Im vorigen Jahr hatten wir auch so eine Überschwemmung. Über Nacht trat Frost ein, der eine riesige Eisfläche hin zauberte. In diesem Winter haben wir schon die Hoffnung auf Eis fast aufgegeben. Wir wissen uns lange nicht eines solch nassen und warmen Dezembers und Januars zu erinnern. In Flandern steht das Wasser in den Schützengräben. An ein Kämpfen der Infanterie ist kaum noch zu denken. Freund und Feind sind mit dem Entleeren der Gräben beschäftigt."
Land unter im Schützengraben

Auch zwei Tage später hatte der Himmel seine Schleusen immer noch nicht geschlossen, wie die Merziger Zeitung am 11. Januar berichtete: "Nachdem das Barometer gestern merklich gestiegen und die Temperatur bis auf 4 Grad Wärme herunter gegangen war, schöpfte man Hoffnung auf bessere Witterung, die so sehnsüchtig erwartet wird, am Meisten von unseren Feldgrauen. Aber bereits gestern Abend sind diese schönen Hoffnungen wieder "zu Wasser" geworden und der Regen regnet jeden Tag!"

Was in den vorstehenden Zeitungsberichten im Hinblick auf Flandern angesprochen wird, ist ein deutlicher Beleg dafür, dass die Bevölkerung in der Heimat nicht zuletzt über die Feldpostbriefe der Soldaten, die die Menschen erreichten, eine sehr genau Vorstellung davon gehabt haben muss, wie sich die Verhältnisse in den Schützengräben in Flandern darstellten.

Man muss dazu wissen, dass die flandrische Landschaft für einen Stellungskrieg überhaupt nicht geeignet war. In zwei bis drei Spaten Tiefe stieß man bereits auf Grundwasser, so dass die Soldaten hier nicht nur mit dem Feind, sondern auch mit dem immer wieder in die Stellungen eindringenden Wasser zu kämpfen hatten.

Wer sich auf einer kleinen Bodenerhebung festgesetzt hatte, besaß einen unermesslichen Vorteil, weil seine Gräben nur bei lang anhaltendem Regen vollliefen und nicht permanent freigeschöpft werden mussten.
Gefahr des Ertrinkens

Dementsprechend erbittert wurde um diese wenigen Positionen gekämpft und die von den Deutschen andernorts praktizierte Taktik der beweglichen Verteidigung, bei der man etwas Raum aufgab, um dem gegnerischen Stoß die Wucht zu nehmen und anschließend zum Gegenstoß ansetzte, wurde hier nicht angewandt. Keiner wollte eine halbwegs trockene Stellung aufgeben, da man sich dann schnell im knietiefen Schlamm wiederfand.

Der dauernde Beschuss und die Anlage von Schützengräben und Deckungslöchern verschlimmerte die Situation zusätzlich, weil sie die im Verlauf von Jahrhunderten in der flandrischen Landschaft geschaffenen Drainagesysteme zerstörten, wodurch das Wasser nicht mehr abfloss. Wer in Flandern in einen Granattrichter oder ein Schützenloch sprang, um gegen feindlichen Beschuss Deckung zu suchen, riskierte, darin zu ertrinken.

< wird fortgesetzt.

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