Vor 70 Jahren allein nach Hause gereist

Honzrath · Es war eine abenteuerliche Heimreise, die Rudolf Weiß vor 70 Jahren von Eschede in der Lüneburger Heide zurück nach Honzrath erlebte. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges musste der heute 85-Jährige mit seiner Stiefmutter zunächst nach Zenn in Bayern und später nach Eschede flüchten.

 Rudolf Weiß (links) und Herbert Engstler, den er als ersten Honzrather bei seiner Rückkehr aus der Evakuierung antraf, sind bis heute beste Freunde geblieben. Foto: Norbert Becker

Rudolf Weiß (links) und Herbert Engstler, den er als ersten Honzrather bei seiner Rückkehr aus der Evakuierung antraf, sind bis heute beste Freunde geblieben. Foto: Norbert Becker

Foto: Norbert Becker

In der heutigen Zeit, wo viele Menschen auf der Flucht sind, erinnert sich der 85-jährige Rentner Rudolf Weiß aus Honzrath an den 29. August 1945, als er nach abenteuerlicher, achttägiger Rückkehr aus der Evakuierung in Niedersachsen kommend wieder seinen Geburts- und Heimatort Honzrath erreichte. Damals, also vor genau 70 Jahren, nahm für ihn als 15-jähriger Junge ein unvergessenes Abenteuer einen guten Ausgang. Aufgrund dieser eigenen Erfahrungen hat er viel Verständnis für die Flüchtlinge der heutigen Tage, sagt Weiß im Gespräch mit der Saarbrücker Zeitung.

Es begann im Dezember 1944. Nachdem ihr Ort durch Artillerie beschossen worden war, mussten viele Honzrather evakuiert werden. Für mehrere Familien, so auch die Familie Weiß, hieß dies auf nach Neuhof an der Zenn in Bayern. Die 28-jährige Katharina Weiß, deren Mann im Krieg war, machte sich mit zwei Stiefkindern (darunter der damals 14-jährige Rudolf Weiß) und drei eigenen Kindern (fünf, drei und ein Jahr alt) nach dorthin auf. Eine Woche lang wohnte man bei einer Unternehmers-Witwe. Die sechs Personen mussten in zwei Betten schlafen. "Es sollte in dem Dorf keine längere Bleibe werden, denn die Saar-Franzosen waren dort unbeliebt", erzählt Weiß. Die Stiefmutter habe dann dem Bürgermeister gesagt, dass sie eine Schwester in Eschede (Lüneburger Heide) habe und dahin wolle.

Im Zug ging es durch die verschneite Landschaft zum einem Hofgut bei Eschede. Hier begrüßte sie Gutsverwalter Schulz. Drei Zimmer standen Katharina Weiß und ihrer Schwester Anna mit ihren jeweils fünf Kindern zur Verfügung. "Aber die Unterbringung war besser als in Bayern", erinnert sich Rudolf Weiß. Kurz nach ihrer Ankunft verstarben die beiden jungen Töchter des Gutsverwalters an Diphterie, denn es gab nicht das notwendige Penicillin . "Meine Stiefmutter schrieb an meine Oma Susanne über meine Erkrankung und was der Doktor gesagt hatte. Ich kam für etwa fünf Wochen ins Krankenhaus Celle. Nachdem ich zunächst einen Rückfall hatte, wurde es allmählich besser", blickt er zurück. Er kümmerte sich später auf dem Hof um Pferde, Ochsen und Schafe. Durch den frühen Tod seiner Mutter 1933 wurde aus ihm ein "Oma-Kind". So wollte er unbedingt heim zu seiner 72-jährigen Großmutter, um zu sehen, ob sie noch lebt, denn es gab keinen Kontakt. Die Stiefmutter und Geschwister waren informiert, als sich Rudolf Weiß mit trockenem Brot in der Tasche auf die Heimreise nach Honzrath machte. Vom Bahnhof Eschede ging es am Sonntag, 22. August 1945, in einem überfüllten Güterzug nach Hannover, wo er auf einer Bahnhofsbank übernachtete. Dann wollte er montags unbedingt mit einem Güterzug bis nach Düsseldorf. "Der war so voll, dass die Leute sogar auf das Dach kletterten. Ich stellte mich auf die Puffer zwischen zwei Waggons und hielt mich fest, denn es war die einzige Chance, noch mitfahren zu können. Zum Glück fuhr der Zug nicht so schnell und machte öfters halt, so dass ich wohlbehalten am Düsseldorfer Bahnhof ankam und übernachtete", sagt Weiß. Dienstags kam er bis hinter Köln und schlief auch dort im Bahnhof. Mittwochs führte der Weg per Bahn weiter bis nach Moselweiß bei Koblenz, wo ein Schweinestall zum Nachtlager wurde.

Die Moselstrecke bewältigte er dann donnerstags teils mit dem Zug und teils zu Fuß, in Zell verbrachte er die Nacht. Freitags ging es bis nach Konz und samstags zu Fuß weiter bis nach Mettlach, wo er bei Bekannten übernachten und essen konnte, ehe dann sonntags, 29. August, morgens beizeiten die letzte Fußetappe von Mettlach über Merzig und Merchingen anstand. Kurz vor Honzrath kam ihm um die Mittagszeit Herbert Engstler aus der Hecke entgegen, der auf dem Rückweg vom Hochamt war. "Herbert, Jahrgang 1931, also ein Jahr jünger als ich, erschrak sehr, als er mich sah, denn im Dorf hatte man erzählt, ich sei an der Diphtherie verstorben", erinnert sich Weiß. "Ja, das stimmt und ich dachte, ich sehe einen Geist vor mir", erzählt Engstler.

Beide sind noch sehr rüstig, bis heute gute Freunde geblieben und spielten viele Jahre gemeinsam Fußball. Auch die Oma und Tante von Weiß waren damals erschrocken, als er ankam. Das elterliche Haus war zerstört, Stiefmutter und Geschwister kamen etwa ein halbes Jahr später ebenfalls heim und auch der Vater kehrte aus der Kriegsgefangenschaft zurück. "Angst hatte ich im Leben noch nicht, sonst hätte ich als 15-Jähriger sowas wie diese riskante Heimreise aus der Evakuierung nicht gemacht", sagt Weiß und pocht auf sein Gottvertrauen.

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