Die Trauerrednerin aus Merzig Worte für den letzten Weg

Beckingen/Ottweiler · Als Trauerrednerin verleiht Stefanie Kiefer aus Merzig den Verstorbenen noch einmal eine Stimme – auch wenn das oft kaum zu ertragen ist.

 Vor jeder Rede geht sie noch einmal in sich: Trauerrednerin Stefanie Kiefer sitzt auch gerne mal mit ihrer Mappe auf einer Friedhofsbank.

Vor jeder Rede geht sie noch einmal in sich: Trauerrednerin Stefanie Kiefer sitzt auch gerne mal mit ihrer Mappe auf einer Friedhofsbank.

Foto: Fatima Abbas

Normalerweise ist sie es, die die Fragen stellt. Den Müttern und Vätern. Den Schwestern und Brüdern. Den Freundinnen und Freunden. Aus sicherer Distanz. „Ich bin da, aber ich bekunde nie mein Beileid“, sagt Stefanie Kiefer. Und doch bekommt sie alles aus nächster Nähe mit. Schaut in die Augen und notiert. Will erfahren, was den Menschen in seinen letzten Stunden und Jahren bewegt hat. Was war das für ein Mensch? Kiefer fasst es in Worte. Oder wie sie sagen würde: „Ich leihe dem Leben des Verstorbenen eine Stimme.“

Die 37-Jährige zieht sich in ihrem zweistöckigen Haus in Beckingen kurz zurück. In einer Ecke zeigt sie auf Ansichtskarten. Auf die Erinnerung an eine Totgeburt. Später verlieren dieselben Eltern auch noch ein zweites Kind. Kiefer – selbst Mutter eines elfjährigen Sohnes – schluckt. „Dort anzurufen, fiel mir sehr schwer. Da hatte ich große Hemmungen.“

Vor etwas mehr als zwei Jahren, am 18. August 2016, ergeht es ihr ähnlich. An jenem Donnerstag steht „Krematorium Saarbrücken“ in Kiefers Kalender. Dort spricht sie vor den Eltern, Großeltern und Urgroßeltern von Zwillingen, die zu früh das Licht der Welt erblickten. Nicht wie errechnet am 19. November, sondern am 4. August. Aus einer Feier wurde eine Trauerzeremonie.

Es sind nur zwei von unzähligen Geschichten, die Kiefer in drei schweren Ordnern festgehalten hat. Geschichten über den Anfang, das Ende und den Neuanfang. Über eine 22-Jährige, die ihrem zweiten Suizidversuch erliegt. Über eine andere junge Frau, die durch eine Verkettung unglücklicher Umstände bereits mit 31 aus dem Leben scheidet. Über einen 43-Jährigen, der bei einem Schiffsunfall auf hoher See ums Leben kommt. „Wenn der Tod plötzlich auftritt, ist es am schlimmsten“, sagt die zierliche Frau und wuchtet die Ordner auf den Tisch ihrer Terrasse. „Ich kann sie nicht wegwerfen.“ In den letzten Jahren hat sie viel geschrieben. Jedes Wort so gewählt, das es starken Gefühlen standhält. Gefühlen von Hinterbliebenen, die nur wenige Tage nach der Tragödie ihr Herz öffnen. Der Tod macht ihre Geschichten lebendig.

Beruflich geweint hat Steffi, wie sie nach einer halben Stunde genannt werden will, nur ein einziges Mal. Auf der Autofahrt zur ersten Babybestattung. „Ich bin nicht nah am Wasser gebaut.“ Und trotzdem macht es etwas mit ihr, wenn eine 15-Jährige von der Brücke springt oder eine Frau in ihrem Alter an Leukämie stirbt. Wenn die Tränen nicht fließen, tun es die Gedanken umso mehr. Ihr Mann Frank hilft, sie einzudämmen. Er fährt ab und zu mit auf Trauerfeiern. Als moralische Stütze. Ohne die hätte sie auch vor anderthalb Jahren den Tod ihres besten Freundes nicht verkraftet. Eine Rede hätte sie damals nicht halten können. „Ich habe nur durchgeweint.“ Mit Begriffen wie „Fügung“ oder „Berufung“ kann die gebürtige Merzigerin wenig anfangen. Vielmehr ist es das Interesse und die Neugier, die schon die kleine Stefanie auf den Friedhof Büschfeld bei Wadern treiben. Mit Oma zum Grab von Opa. Als 17-Jährige fragt sie ihren damaligen Freund, ob man Menschen auch jenseits der konventionellen Rituale beisetzen könne. Das „Nein, kann man nicht“, das ihr entgegenschmettert, hallt noch lange nach. Sie will sich nicht damit abfinden – obwohl sie zunächst einen anderen Weg einschlägt.

Nach einer Ausbildung zur Zootierpflegerin arbeitet sie zehn Jahre lang im Merziger Tierpark. Dort lernt sie einen Bestatter kennen, darf ihn bald begleiten. „Und irgendwann war ich dann die bestattende Tierpflegerin und er der tierpflegende Bestatter“, sagt Steffi und lacht. 2014 kündigt sie schließlich ihren Job und fährt zum Intensiv-Kurs nach Frankfurt. Zwei Wochen später ist sie Trauerrednerin.

Tierpflege gibt es für Steffi heute nur noch privat: mit 30 Hühnern, zwei Schafen, zwei Meerschweinchen, einem Kaninchen und einem Jagdhund namens Olli. „Tiere lieben bedingungslos“, sagt die junge Frau. Ohne Vorurteile. Genauso versucht sie den Menschen zu begegnen, deren Leben sie posthum zu Papier bringt.

Über ihren festen Job im Bestattungswesen spricht Steffi nur ungerne. Nur so viel: Von den Trauerreden allein kann sie nicht leben. Die Aufträge trudeln unregelmäßig ein. Manchmal sind es mehrere pro Woche, manchmal einer pro Monat. Manchmal kümmert sich die Familie schon vor dem Tod. Manchmal nicht. Bei einer Urnenbestattung – das ist die Regel – hält Steffi im Schnitt nach zehn Tagen ihre Rede. Manchmal fließt es. Manchmal stockt es bis spät in den Abend hinein. Zwölf bis 15 Stunden widmet sie im Schnitt den Hinterbliebenen. Samt Besuch, Text und Trauerfeier.

Im Fall von Gerd Anna bleibt wenig Zeit. Der 74-Jährige stirbt an einem Samstag, etwas früher als erwartet. Am Montag trifft sich Steffi mit den Angehörigen. Zwei Tage später sitzt sie mit weißer Bluse im Auto Richtung Ottweiler-Steinbach, mehr als 40 Kilometer von Beckingen entfernt. Sie ist gut in der Zeit. Als sie ankommt, bleibt noch eine Dreiviertelstunde bis zur Ansprache.

Zwischen roten und weißen Rosen begrüßt Steffi den Bestatter. Immer mehr Trauergäste treten heran, tragen sich ins Kondolenzbuch ein, liegen sich in den Armen. „De Anna Gerd“, wie ihn hier die meisten gekannt haben, hat offensichtlich viel hinterlassen. Als zupackender Metzger und als Mensch. In der ersten Reihe sitzen seine Frau, seine Töchter und die Enkelkinder. Steffi grüßt und zieht sich hinter den Andachtsraum zurück. Ein paar Minuten Ruhe für die letzte Ruhe. Noch einmal tief durchatmen, noch einmal das Manuskript durchgehen. Zu den Worten in Computer-Schwarz gesellen sich Notizen in Kugelschreiber-Blau.

Um kurz vor 15 Uhr ist die junge Frau bereit. Am Eingang stehen die Mitarbeiter von Gerd Annas „Worschtkich“ Spalier. Steffi schreitet zum Mikrofon. Zwischen Rosen und Sonnenblumen klappt sie ihre Mappe auf. Ihre Zuhörer sitzen in sich gekehrt auf ihren Plätzen. Die Stimme funktioniert. Mal hält Steffi inne, mal schenkt sie ein Lächeln. Die Hinterbliebenen lächeln zurück. „De Anna Gerd war einfach anna-st“ liest sie aus ihrem Manuskript. Die Angehörigen nicken. Ja, das war er.

Dann erklingt „Wenn man Freunde hat“ von Caterina Valente. Ein Teil der Freunde, die Gerd Anna offensichtlich zahlreich hat, trägt nun seinen Sarg zum Grab. Dort steht nach wenigen Sekunden auch Steffi. Um sie herum: mehr als 400 Menschen. Jetzt ist ihre Ansprache etwas lauter. Sie leitet das „Vater unser“ ein. Später wird sie erzählen, dass nur noch ein Drittel der Zeremonien, die sie begleitet, einen religiösen Bezug haben. Doch egal ob mit Gott oder ohne: Der Abschied gehört am Ende den Abschiednehmenden. Die Trauerrednerin zieht sich zurück.

 Stefanie Kiefer spricht bei der Trauerfeier in Ottweiler-Steinbach vor den Angehörigen des verstorbenen Gerd Anna.

Stefanie Kiefer spricht bei der Trauerfeier in Ottweiler-Steinbach vor den Angehörigen des verstorbenen Gerd Anna.

Foto: Fatima Abbas

Im Auto zückt sie überraschend einen Umschlag mit den Dingen, die sie noch „mit auf den Weg“ geben will. „Weg“ ist ein Wort, das Steffi gerne und immer wieder benutzt. „Auf diesem Weg wollte ich dir ein paar Dinge schreiben“, leitet sie ihre Gedanken ein. Fasst noch einmal zusammen, warum sie das tut, was sie tut. „Man sollte die Vergangenheit annehmen. Ihr nachzuhängen, ist wertvolles Leben im Jetzt zu verschwenden“, schreibt die Frau, die wenige Zeilen später von der schweren Zeit erzählt, die sie selbst schon durchgemacht hat. Vom Fallen und Wieder-Zu-Sich-Finden. Vom Alleinsein „in Feld und Wald“. Davon, dass sich „schön und traurig“ nicht ausschließen. Davon, dass sie auch mal anregt, Schokolade mit ins Grab zu legen, wenn der Verstorbene Süßkram mochte. Von Witzen vor der Trauergemeinde, wenn er oder sie eine Frohnatur war. Von all dem, was sie nur dann erfährt, wenn sie ihre Fragen stellt. Aus sicherer Distanz. Und doch immer aus nächster Nähe.

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