"Man müsste die Regierung verklagen''

Mit Obdachlosen beschäftigen Sie sich ja schon länger. Was war der Auslöser - gab es ein Schlüsselerlebnis? Heins: Mein Schlüsselerlebnis war der Selbstmord eines Obdachlosen. Ich fuhr auf einer Rheinfähre von Bingen nach Rüdesheim. Plötzlich hörte ich an Deck aufgeregte Stimmen. Ich kam hoch und sah an der Reling ein paar Schuhe stehen

Mit Obdachlosen beschäftigen Sie sich ja schon länger. Was war der Auslöser - gab es ein Schlüsselerlebnis?

Heins: Mein Schlüsselerlebnis war der Selbstmord eines Obdachlosen. Ich fuhr auf einer Rheinfähre von Bingen nach Rüdesheim. Plötzlich hörte ich an Deck aufgeregte Stimmen. Ich kam hoch und sah an der Reling ein paar Schuhe stehen. Im Rhein sah ich, wie ein Mensch ertrank. Wie sich später herausstellte, war dieser Mensch wohnungslos. Er war, so meine Recherchen, seit Ende des Zweiten Weltkriegs unterwegs. Als Kind brachte man ihn wegen einer angeblichen geistigen Behinderung in ein Heim, dort wurden an ihm medizinische Versuche gemacht. Als der Krieg zu Ende war, fand er keinen Anschluss. Sein Zuhause wurde die Straße.

In welchem Zeitraum haben Sie die Jugendlichen am Frankfurter Hauptbahnhof interviewt, und in welchem Alter waren die Betreffenden?

Heins: Die Recherchen mit Straßenkindern in Deutschland begannen bereits 1989. Seitdem bin ich immer wieder auf der Straße, um zu erfahren, wie sich die Situation entwickelt. Ich kann Ihnen sagen: Es wird immer schlimmer, und immer weniger schauen hin! Die betroffenen Jugendlichen werden zunehmend jünger. Im Augenblick sind schon Kinder ab 13 Jahren, zumindest temporär, auf der Straße.

Was treibt die Jugendlichen auf die Straße? Welche Gründe nennen sie im Wesentlichen? Wovon träumen sie?

Heins: Die Jugendlichen gehen auf die Straße, weil sie sich von der Welt der Erwachsenen nicht verstanden fühlen. Aber auch die emotionale Kälte treibt sie auf die Straße, in der Hoffnung, dort etwas zu finden, was sie zu Hause oder im Heim nicht bekommen können. Die meisten träumen von einer Familie mit Kindern und einer geregelten Arbeitsstelle.

Geht es ihnen auf der Straße denn zumindest emotional wirklich besser als zu Hause? Oder redet man sich die neue Existenz mit Drogen schön?

Heins: Nichts von alledem, sie kommen von einer "sozialen Kälte" in die andere. Der Drogenkonsum bietet keinen Ersatz für die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Das Geld für die Beschaffung von Drogen wird durch Diebstähle, Drogenhandel, Betrügereien oder Prostitution erwirtschaftet. Da gibt es nichts mehr schönzureden, weil die nackte Realität eine andere Sprache spricht.

Was müsste passieren, um diesen Jugendlichen zu helfen?

Heins: Die Erwachsenen müssten endlich Verantwortung übernehmen. Besonders die "politische Klasse" entzieht sich dieser Problematik. Sie schaut einfach weg. Dabei gibt es klare rechtliche Regelungen, die verhindern sollen, dass Kinder und Jugendliche auf sich allein gestellt sind. Im Grunde genommen haben wir es hier mit Menschenrechtsverletzungen zu tun, die täglich auf der Straße stattfinden. Die Bundesregierung müsste meiner Meinung nach rechtlich belangt werden.

Haben Sie den Kontakt zu den Interviewten gehalten? Haben welche die Rückkehr in ein bürgerliches Leben geschafft?

Heins: Ja, ich pflege den Kontakt zu jungen Menschen, die mit mir in Verbindung bleiben wollen. Eine Rückkehr in ein bürgerliches Leben ist, wenn man einmal auf der Straße gelebt hat, fast unmöglich. Doch es gibt Ausnahmen. Beispielsweise hat es eine Jugendliche aus dem Frankfurter Hauptbahnhof geschafft, von der Straße zu kommen. Sie lebt heute als alleinerziehende Mutter im Taunus von Hartz 4. Das ist, wie ich finde, schon ein Schritt in die Gesellschaft.

Haben einige der Interviewten das Stück gesehen, und wie haben sie reagiert?

Heins: Es ist mir ein Anliegen, betroffene Jugendliche zu dem Theaterstück einzuladen. Sie können die Vorstellungen kostenlos besuchen, auch Jugendliche aus Wohngruppen oder Heimen sind willkommen. Die Reaktion der Jugendlichen auf das Stück ist fast immer die gleiche. Sie fühlen sich in ihrer isolierten Lebenswelt auf Augenhöhe wahrgenommen. Immer wieder kommt es vor, dass nach der Aufführung Betroffene zu mir kommen, um sich bei mir zu bedanken. Das ist für mich eine große Ehre.

"Fee: Ich bin ein Straßenkind": Freitag/Samstag 19./20. November, Theater im Viertel, je 20 Uhr. Nach jeder Vorstellunge findet ein Publikumsgespräch statt. Karten gibt es unter Telefon (06 81) 3 90 46 02.

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