Macht und Ohnmacht gehen Hand in Hand Opferambulanz dokumentiert und sichert Spuren von Gewalt

Saarbrücken. Frisches Gemüse und Kartoffeln, das hat sie sich gewünscht. Sie liegt im Bett. Sie kann nicht anders. Sie macht den Mund auf, als der Löffel näher kommt. Doch plötzlich schreit die 87-Jährige, haut ihrer Tochter den Teller aus der Hand. Das Gemüse, die Kartoffeln landen auf dem Teppichboden

 Monika Trumm kümmert sich beim Landeskriminalamt um das Thema Gewalt in der Pflege. Foto: mh

Monika Trumm kümmert sich beim Landeskriminalamt um das Thema Gewalt in der Pflege. Foto: mh

Saarbrücken. Frisches Gemüse und Kartoffeln, das hat sie sich gewünscht. Sie liegt im Bett. Sie kann nicht anders. Sie macht den Mund auf, als der Löffel näher kommt. Doch plötzlich schreit die 87-Jährige, haut ihrer Tochter den Teller aus der Hand. Das Gemüse, die Kartoffeln landen auf dem Teppichboden. Wutentbrannt holt die Tochter aus und schlägt ihrer Mutter mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie explodiert. Sie rastet aus.

Solche Szenen spielen sich hinter verschlossenen Türen ab. In Familien, in denen alte Menschen gepflegt werden. Weil die Versorgung der betagten Angehörigen oft eine ungeheure Belastung darstellt. Ständige Überforderung zieht erschreckende Reaktionen nach sich.

Ganz allmählich wird "Gewalt in der Pflege" im Saarland thematisiert. Andere sind da schon weiter. Etwa die bundesweit anerkannte Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter ("Handeln statt misshandeln") mit Notruftelefon und Krisenberatung (siehe auch Internet-Hinweis).

Im Saarland beschäftigt sich beim Landeskriminalamt Monika Trumm seit einigen Jahren mit dem Thema. Sie hält - auf Wunsch - Vorträge über Gewalt und deren Vermeidung in der ambulanten sowie auch in der häuslichen Pflege.

"Das tatsächliche Ausmaß der Gewalt", sagt die Kriminalbeamtin, "ist nicht bekannt und auch mögliche Formen einer angemessenen und wirkungsvollen Reaktion auf diese Gewalt sind noch keineswegs ausdiskutiert." Statistiken, die dieses bestimmte Deliktfeld erfassen, existieren nicht, gleichwohl die Gewissheit, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Wobei nicht nur körperliche, sondern auch psychische Gewalt (anschreien, beschimpfen, das Schamgefühl verletzen) zu beleuchten sind. Und Misshandlung in Form von Vernachlässigung und Unterlassung. Wenn etwa Oma ins Bett macht und niemand sich drum schert.

Nach einer Vorausberechnung von Professor Thomas Dörr von der Fachhochschule der Polizei in Münster werden im Jahr 2020 1,8 Millionen Frauen und eine Million Männer pflegebedürftig sein. Das heißt: Sie sind Menschen ausgeliefert. Menschen, die geduldig sind, aber auch Menschen, die heillos überfordert sind. Und mit dieser Überforderung nicht zurechtkommen. Macht und Ohnmacht gehen hier Hand in Hand. Verstärkt wird die Situation durch das Ausbleiben von Erfolgserlebnissen und Anerkennung sowie die soziale Isolation des Pflegenden, da alle Kraft und Zeit aufgezehrt sind.

"Ein hochsensibles Thema", sagt dazu Monika Trumm. Wobei die pflegenden Angehörigen in erster Linie Hilfe benötigten und keine Bestrafung. Die Polizei-Broschüre "Der goldene Herbst - Sicherheitstipps für Seniorinnen und Senioren" beinhaltet eine Reihe von Ratschlägen, die weiterhelfen können. So sollte man sich nicht scheuen, ambulante Pflegedienste oder Kurzzeitpflege in Anspruch zu nehmen, um der Überforderung zu entgehen. Hilfreich sind auch Gesprächskreise für Angehörige, Selbsthilfegruppen und die Telefonseelsorge. Denn manchmal hilft schon ein vertrauensvolles Gespräch. Die Möglichkeit eben, die Probleme gegenüber einem neutralen Zuhörer zu offenbaren. Nutzen kann man auch - noch bevor man die Aufgabe der Pflege übernimmt - das Beratungsangebot der Pflegekassen. Auch die Pflegestützpunkte sind als Ansprechpartner geeignet. Einen von ihnen gibt es im Sulzbacher Rathaus, Tel. (0 68 97) 9 24 67 98, einen weiteren in Saarbrücken, Stengelstraße 12, Tel. (06 81) 5 06 49 88. Nützlich ist auch die Kiss - Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe im Saarland. Unter anderem vermittelt sie Kontakte zu Selbsthilfegruppen. Nicht zuletzt weiß auch der Hausarzt Rat und Hilfe, bevor die Situation eskaliert. Monika Trumm: "Zwei wissen immer mehr als einer allein."

Was aber können ambulante Pflegekräfte, Pflegeverbände und -einrichtungen tun, wenn sie Gewalt beobachten oder vermuten? Sie sind die Brücken zur Außenwelt und können Schlimmes verhindern. Sie können intervenieren oder Intervention durch Dritte ermöglichen. "Schweigen Sie nicht, sondern machen Sie von Ihrem Recht Gebrauch, Missstände aufzudecken und an deren Veränderung mitzuwirken", rät Monika Trumm Betroffenen. Gemeinsam müsse man dafür sorgen, dass das Alter ein "sicherer Hafen und keine Gefahrenzone" ist.

Kontakt: Monika Trumm, Landeskriminalamt Saarland (LKA), Graf-Johann-Straße 25-29, 66121 Saarbrücken, Telefon (0681) 962-34 95

Saarbrücken. Im Klinikum Saarbrücken auf dem Winterberg gibt es neuerdings eine Ambulanz für Erwachsene und Kinder, die beispielsweise Opfer häuslicher Gewalt geworden sind. Die Opferambulanz ist Teil der Rechtsmedizin (Remaks). Hier erhält man eine fachgerechte Dokumentation der erlittenen Verletzungen, einschließlich der Sicherung vorhandener Spuren.

Dieses Angebot ist völlig unabhängig von einer Strafanzeige bei der Polizei. Die Dokumentation gibt den Betroffenen Zeit, in Ruhe über weitere Schritte nachzudenken, ohne dass zwischenzeitlich wichtige Beweise verloren gehen.

Die Untersuchung sowie die gerichtsverwertbare Befund-Dokumentation erfolgen kostenlos. Sollte sich das Opfer, aus welchen Gründen auch immer, zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Anzeige entschließen, ist es wichtig, auf eine gerichtsmedizinische Dokumentation zurückgreifen zu können. Dies kann unter Umständen verhindern, dass Geschädigte durch ein Gerichtsverfahren ohne Beweismittel erneut schweren Belastungen ausgesetzt sind.

Die Mitarbeiter der Opferambulanz unterliegen der Schweigepflicht. Nichts dringt hier nach außen. Allein der Betroffene bestimmt, wie die Untersuchungsergebnisse verwendet werden. Nur auf ausdrücklichen Wunsch der untersuchten Person, heißt es in der neuen Broschüre der Rechtsmedizin, und nachdem der Arzt oder die Ärztin schriftlich von ihrer Schweigepflicht entbunden worden sind, dürfen die erhobenen Befunde an andere Stellen - Ermittlungsbehörde oder Rechtsanwalt des Opfers - weitergegeben werden. Die Untersuchungen finden in der Regel in den Räumen der Rechtsmedizin statt. In Ausnahmefällen besteht auch die Möglichkeit, dass ein Rechtsmediziner vor Ort untersucht. mh

Kontakt: Die Opferambulanz bei der Rechtsmedizin (im Gebäude der Kinderklinik) ist montags bis freitags von 8.30 bis 16.30 Uhr erreichbar unter Tel. (0681) 963-2913, -2914 und -2915; E-Mail: info@rechtsmedizin-klinikum-saarbruecken.de (siehe auch Internet-Hinweis).

"Gewalt in der Pflege beginnt nicht erst

bei der

Straftat, sondern schon lange vorher."

Monika Trumm

Auf einen Blick

Zu einem Vortrag zum Thema Gewalt in der Pflege lädt der Klub 82 der evangelischen Kirchengemeinde Sulzbach ein. Referent ist Kriminalhauptkommisar Hermann Lehberger. Die Veranstaltung beginnt am Donnerstag, 11. November, um 19.30 Uhr im evangelischen Gemeindehaus, Auf der Schmelz. Der Eintritt ist frei. mh

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