Lebenskluges Original

Saarbrücken. "Straßenhuren reden nicht miteinander, Kindchen. Sie bellen." Und obwohl ihr Primitivität als "einfachste Lösung" stets zuwider war, mischte Camille Lawinger kräftig mit in diesem "hundsordinären Spektakel"

 Camille Lawinger alias "Mylene" mit ihrem Zwergpinscher Asaliah: Madame besticht mit Mutterwitz und Diskretion. Fotos: Verlag

Camille Lawinger alias "Mylene" mit ihrem Zwergpinscher Asaliah: Madame besticht mit Mutterwitz und Diskretion. Fotos: Verlag

Saarbrücken. "Straßenhuren reden nicht miteinander, Kindchen. Sie bellen." Und obwohl ihr Primitivität als "einfachste Lösung" stets zuwider war, mischte Camille Lawinger kräftig mit in diesem "hundsordinären Spektakel". Wie hätte sie es sonst überleben sollen? Als steckenbeinige minderjährige Trottoirschwalbe Rachel ging sie im elsässischen Mulhouse anschaffen, um ihre vom Vater geprügelte Mutter und die zehn jüngeren Geschwister über Wasser zu halten. Von einer kleinen Pariser Kaufhausangestellten verwandelte sie sich in die schöne Striptänzerin Mylene Shalimar (Mylene wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Mylène Demongeot, Shalimar wegen ihrer Vorliebe für das gleichnamige Parfum), die von der berüchtigten Saarbrücker Bar Cascade aus die angesagten Clubs Europas eroberte. Als Pia Paname tingelte sie mit Chansons von Edith Piaf; sie war Chefin eines noblen Saunaclubs in Weinheim, arbeitete als Callgirl und Wanderhure, stürzte ab in Alkohol und Kokain, landete auf dem Saarbrücker Straßenstrich und rappelte sich wieder auf.Die letzten 20 ihrer insgesamt 45 Jahre im Fleischlichen führte sie mit eiserner Disziplin als geheimnisvolle Domina Madame Lilith ihr eigenes Saarbrücker Etablissement "Tempel Ishtar". Nun, seit zwei Jahren den Ruhestand genießend, hat sie ihre Autobiografie veröffentlicht. In "Zuckerbrot. Nur mein Körper war käuflich" enthüllt sie auch ein lange gehütetes Geheimnis: Mylene,wie Freunde sie nennen, wurde 1952 als Hermaphrodit, als Zwitter, geboren. Vom Vater gezwungen, als Junge aufzuwachsen, konnte sie sich erst im Alter von 19 Jahren "anpassen" lassen zur Frau, als die sie sich immer fühlte. "Es war die schlimmste Strafe, in diesem Körper gefangen zu sein.", sagt Mylene. Doch habe sie gerade diese Erfahrung des Prinzips der Dualität, das sie letztendlich als bewusstseinserweiternde Bereicherung erkannte, stark gemacht.

Wer sie anruft, vernimmt eine warme, überaus einnehmende Stimme: "Madame am Apparat?" Madame ist ein Titel, den sie mit Stolz heute noch führt, sie hat ihn sich schließlich hart erarbeitet. Wer sie in ihrer gepflegten Saarbrücker Wohnung besucht, muss erst an der zwölfjährigen Zwergpinscherdame Asaliah vorbei, die ihr Frauchen bewacht. Madame dagegen empfängt mit überwältigender Herzlichkeit; sie ist unwiderstehlich charmant, drollig und direkt. Ein betörend warmherziges Original, das die Saarländer wegen ihrer Toleranz schätzt und mit kerngesundem Mutterwitz und lebenskluger Weisheit in saarländisch-französischem Kauderwelsch drauflosplappert. Man versteht sofort, warum ihre "Gäste" - das Wort Freier schätzt Madame nicht - bei ihr Schlange standen.

Doch wer sich aus ihrem Buch die Befriedigung voyeuristischer Bedürfnisse erhofft, wird enttäuscht: Madame ist diskret. Und Madame ist stark. Madame hat in menschliche Abgründe geblickt; unzählige plastische Operationen, notwendige Investitionen ins Betriebskapital, haben Spuren hinterlassen. Madame wurde von drei Ehemännern verschlissen, die dritte Scheidung läuft gerade. Madame war immer unbarmherzig gegen sich selbst und hätte allen Grund, verbittert und selbstmitleidig zu sein. Doch Madame ist dankbar und bescheiden; eine "große Mystikerin", die an Wiedergeburt glaubt: "Ich bin nur ein kleines Scheißhaus auf der Durchreise." Kraft schöpft die überzeugte Vegetarierin aus Meditation und Spiritualität, die sie so manche Zumutungen ihres Berufes überstehen ließen: "Wir müssen Mitleid haben, dienen. Wir dürfen nicht richten. Nur das macht uns groß." Das Heil sieht sie im Matriarchat, hat sie doch die Rolle des "Bestrafungsengels" als Befreiung aus devoter Weiblichkeit erlebt. "Aber ich war nie das arme Opfer", betont Mylene. "Ich war eine Zeit lang die größte Hure der Welt, und ich war es gern!"

Camille Lawinger: "Zuckerbrot. Nur mein Körper war käuflich" Geistkirch-Verlag Saarbrücken, Taschenbuch, 142 Seiten, 14 Schwarzweiß-Abbildungen, 12,80 Euro

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