3000 Familien im Land haben Betreuungskräfte aus Osteuropa Was auf saarländische Familien nach dem Pflegeurteil zukommt

Erfurt/Saarbrücken · Allein im Saarland lassen 3000 Familien ihre Angehörigen von Betreuungskräften aus Osteuropa versorgen. Dass diese jetzt Anspruch auf Mindestlohn haben, bedeutet für viele kaum lösbare Aufgaben.

 Nach dem Mindestlohn-Urteil befürchtet die Vorsitzende des saarländischen Landespflegerats, dass viele Familien sich die Betreuung ihrer pflegebedürftigen Angehörigen zu Hause nicht mehr leisten können und sie ins Heim schicken müssen.

Nach dem Mindestlohn-Urteil befürchtet die Vorsitzende des saarländischen Landespflegerats, dass viele Familien sich die Betreuung ihrer pflegebedürftigen Angehörigen zu Hause nicht mehr leisten können und sie ins Heim schicken müssen.

Foto: dpa/Bernd Thissen

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Vergütung der ausländischen Pflegekräfte hat gravierende Folgen. Auf der einen Seite wird gelobt, dass die meist aus Osteuropa stammenden Pflegekräfte nun Anspruch auf Mindestlohn haben. Auf der anderen Seite stellt das betroffene Familien vor große Finanzierungsprobleme. Die Vorsitzende des saarländischen Landespflegerats geht davon aus, dass viele Familien jetzt keine andere Wahl haben werden, als ihre bisher zu Hause betreuten Angehörigen ins Heim zu schicken. Aber auch ein Heimplatz sei teuer und koste derzeit im Saarland im Schnitt zwischen 2600 und über 3000 Euro. „Viele können sich das nicht mehr leisten“, sagt Ursula Hubertus. „Was sich die Leute aufgebaut haben, geht alles auf in der Pflege.“

Für den saarländischen Pflegebeauftragten kommt das Erfurter Urteil nicht überraschend. „Damit war zu rechnen“, sagt Jürgen Bender. Darauf weise er die Landesregierung bereits seit Jahren hin – zuletzt im Pflegebericht von 2019. Zwar könne das Saarland nur über eine Initiative im Bundesrat aktiv werden, um die Situation von Familien und Pflegebedürftigen zu verbessern, weil es sich hier um eine Bundesangelegenheit handle. Aber das sei bisher noch nicht geschehen.

Was hat das Gericht entschieden?

Arbeitnehmern, die Senioren in ihren Wohnungen betreuen, steht der gesetzliche Mindestlohn zu – und das auch für Bereitschaftsdienstzeiten. Das entschied das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurteil (5 AZR 505/20). Geklagt hatte eine Pflegerin aus Bulgarien, die eine Berliner Seniorin 2015 in deren Wohnung betreut und dort auch gewohnt hat. Sie erhielt im Monat 1560 Euro brutto. Sie klagte nun auf Zahlung des Mindestlohns für 24 Stunden täglich, insgesamt 42 636 Euro für sieben Monate, da sie 24 Stunden täglich an sieben Tagen pro Woche gearbeitet habe oder in Bereitschaft gewesen sei. Die Klägerin war für die Betreuung der Seniorin und des Haushalts zuständig.

Wie viele Familien sind betroffen?

In Deutschland werden rund drei Millionen Bürger daheim gepflegt. Der Bundesverband der Betreuungsdienste (BBD), in dem mehr als 240 Dienste organisiert sind, schätzt, dass aktuell bis zu 300 000 Familien Leistungen der osteuropäischen 24-Stunden-Betreuungskräfte nutzen. Allein im Saarland sind es Schätzungen des Sozialverbands VdK zufolge 3000 Familien, die ihre pflegebedürftigen Angehörigen von Betreuungskräften aus Osteuropa versorgen lassen. „Diese Zahlen spiegeln die Versorgungslücke in der Altenpflege. Plätze in der stationären Pflege sind kaum zu bekommen, das betreute Wohnen ist keine Alternative, da vielfach keine umfassende Betreuung und Pflege angeboten wird“, sagt BBD-Chef Thomas Eisenreich. Bei ambulanten Pflegediensten wiederum sind längere Wartezeiten auch keine Seltenheit.

Ab wann gilt das Urteil?

„Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts gilt ab sofort, wenngleich es viele betroffene Familien vor unlösbare Aufgaben stellt“, sagte Yannik Beden, Jurist bei der Kölner Arbeitsrechts-Sozietät Hille Beden.

Was ist, wenn Familien die Schwarzarbeit weiter zulassen?

Die Verbraucherzentrale NRW schätzt, dass etwa 85 Prozent der Betreuungskräfte schwarz arbeiten. Der Betreuungsdienste-Verband geht davon aus, dass die Zahl steigt. „Viele Haushalte werden die Pflegekräfte weiter beschäftigen wie bisher und hoffen, dass diese nicht klagen“, sagt Eisenreich. Jurist Beden warnt: „Familien, die eine Pflegekraft schwarz oder scheinselbständig beschäftigen, gehen ein Strafbarkeitsrisiko ein. Denn die rechtswidrige Beschäftigung bedeutet einen ganzen Strauß von Tatbeständen. Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz und das Sozialversicherungsrecht können mit hohen Bußgeldern geahndet werden.“ Auch finanziell kann Schwarzarbeit teuer werden: „Die Pflegekräfte können wie im behandelten Fall vor dem Bundesarbeitsgericht die Zahlung der Löhne nachfordern, auch die Sozialversicherungen können Beiträge nachträglich geltend machen“, so Beden. „Da geht es rasch um Zehntausende Euro. Bei ausländischen Kräften, die nicht aus der EU kommen, kommen womöglich Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht hinzu.“

Was kostet eine reguläre 24-Stunden-Pflege?

Für viele der osteuropäischen Living-in Kräfte werden derzeit Monatspauschalen zwischen 2500 und 3000 Euro gezahlt, so der BBD. Wenn die Familien nun das Urteil umsetzen müssen und auch die Bereitschaftszeiten zahlen müssen, werden hier rasch Tausende Euro fällig. Der VdK Saarland hat ausgerechnet, dass eine 24-Stunden-Betreuung bei den geltenden Mindestlohnbeding­ungen rund 15 000 Euro pro Monat kostet. Der Sozialverband sieht das Urteil denn auch als klaren Auftrag an den Gesetzgeber, „jetzt endlich einen passenden Rechtsrahmen für diese unverzichtbare Versorgungssäule zu schaffen“. Dieser müsse sicherstellen, dass die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft rechtssicher für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen, aber auch für die Betreuungspersonen gestaltet werden könne. „Dabei muss auch die Bezahlbarkeit für alle gewährleistet sein“, fordert der VdK Saar. Die Arbeitskammer (AK) des Saarlandes sieht es ähnlich: „Damit die häusliche Betreuung für Pflegebedürftige dennoch bezahlbar bleibt, muss der Gesetzgeber dringend nachbessern. Vor allem aber muss die häusliche Pflege endlich aus der rechtlichen Grauzone heraus“, findet Arbeitskammer-Geschäftsführerin Beatrice Zeiger.

Was sollen Familien jetzt tun?

Sie müssen die Pflege ihres Angehörigen daheim legal organisieren oder sich um einen Platz in einem Pflegeheim bemühen. „Für die Pflege daheim müssen die Familien ein Kombinationsmodell finden: Die Living-in-Kraft aus Osteuropa könnte dann acht, neun Stunden am Tag abdecken, für die weitere Zeit könnte ein ambulanter Betreuungsdienst engagiert werden oder die Familie springt selbst ein“, so Eisenreich. Theoretisch können in einem Haushalt auch drei Living-In-Kräfte arbeiten, um die 24-Stunden-Pflege abzudecken. „Doch wer hat schon den Platz, drei Mitarbeiter im eigenen Haus unterzubringen?“, fragt Eisenreich.

Was ist von Vermittlungsagenturen zu halten?

Susanne Punsmann von der Verbraucherzentrale NRW rät, genau hinzusehen. „Betreuungskräfte werden oftmals von Vermittlungsagenturen, die die ausländischen Kräfte entsenden, als 24-Stunden-Pflege beworben.“ Dabei seien die Kräfte im Regelfall aber weder Pfleger (und dürfen daher auch keine medizinischen Pflegeleistungen erbringen), noch dürften sie 24 Stunden arbeiten. Denn dies widerspräche dem deutschen Arbeitszeitgesetz. „Die Vermittlungsagenturen müssen klarer kommunizieren, welche Leistung angeboten wird, nämlich ein Acht-Stunden-Tag.“ Das sei die Botschaft aus dem Urteil.

Wie kann die konkrete Hilfe aussehen?

Die Familie kann selbst Arbeitgeber werden und die Betreuungskraft anstellen. „Leider ist das mit viel Verwaltungsaufwand verbunden“, sagt Punsmann. Die Mitarbeiterin muss beim Finanzamt und den Sozialversicherungen gemeldet werden, Abgaben sind zu entrichten. Für die meisten Senioren und deren Familien seien dieser Aufwand und die vielen Regeln, die sonst noch zu beachten sind, jedoch „drei Hausnummern zu groß“, sagt der saarländische Pflegebeauftragte Jürgen Bender und rät deshalb davon ab. „Die Familie muss sich auch darüber im Klaren sein, dass die Betreuungskraft nur acht Stunden täglich im Einsatz ist und die übrigen 16 Stunden anderweitig abzudecken sind“, so Punsmann weiter. „Wenn die Familie den Mindestlohn für acht Stunden zahlt, kommt sie mit einem Betrag von rund 2300 Euro zuzüglich etwaiger Reisekosten trotz Mindestlohn hin.“ Ein anderes Modell: Die Familie beschäftigt eine selbständige Betreuungskraft. „Diese unterliegt nicht dem Mindestlohn und den deutschen Arbeitszeitgesetzen. Die Familien laufen aber schnell Gefahr, dass eine Scheinselbstständigkeit vorliegt und eine Nachversicherungspflicht droht“, sagt Punsmann. „Daher raten wir von diesem Modell in den meisten Fallkonstellationen ab.“

Wie könnte häusliche Pflege in der Zukunft aussehen und was müsste der Gesetzgeber tun?

Arbeitskammer und VdK Saarland haben bereits im Mai in Zusammenarbeit mit dem saarländischen Pflegebeauftragten ein Konzeptpapier für die „Betreuung in häuslicher Gemeinschaft” vorgestellt, das sich zum Ziel setzt, die Familien nicht finanziell zu überfordern, aber auch den Anspruch der Betreuungskräfte auf angemessene Bezahlung und Arbeitsbedingungen berücksichtigt. Konkret schlagen VdK und Arbeitskammer eine Aufteilung der Betreuungszeit zwischen Betreuer, Familienmitgliedern und professionellen Pflegediensten vor und einen individuellen Gesamtversorgungsplan, der die jeweiligen Betreuungszeiten genau festlegt. „Für diese besondere Art der Betreuung in häuslicher Gemeinschaft müsste allerdings ein eigener Rechtsrahmen begründet werden. Hier muss der Gesetzgeber sich auf den Weg machen“, sagt Arbeitskammer-Geschäftsführerin Zeiger. Ziel müsse es sein, die Situation für die Betreuungskräfte spürbar zu verbessern und gleichzeitig die häusliche Pflege für den Pflegebedürftigen weiterhin bezahlbar zu gestalten. „Zudem müssten die Leistungen aus der Pflegeversicherung auch für den Bereich der häuslichen Pflege abgerufen werden können.”

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